In 100 Objekten
Von Michael Schlag
100 Objekte aus zwei Millionen Jahren und allen Regionen des Globus geben einen Leitfaden durch die Menschheitsgeschichte. Neil MacGregor bringt die Fundstücke der Weltgeschichte in seinem Buch zum SprechenDie Wege des Gewürzhandels
Ein kleiner Pfefferstreuer aus Silber mit Verzierungen aus Gold, zehn Zentimeter hoch, hergestellt um 400 n.Chr. und 1600 Jahre später wiedergefunden auf einem Acker in England. Erstaunlich, was man aus diesem kleinen Objekt ablesen kann: Die Wege des Gewürzhandels zwischen Ostasien und Europa zu Zeiten des römischen Reiches, die für Segelschiffe nötigen Windrichtungen im Indischen Ozean, die Karawanenstrecken durch die Wüste bis zum Nil, das alles gefährlich und höchst profitabel. Das Lösegeld, das die Westgoten nach der Eroberung von der Stadt Rom forderten, und schließlich der Zusammenbruch der römischen Herrschaft in Britannien.
Aber warum findet man überhaupt einen silbernen Pfefferstreuer auf einem Acker in England, und in derselben Schatzkiste auch noch Schmuck sowie 15.000 Gold- und Silbermünzen. Neil MacGregor bringt die Objekte zum sprechen: Nach dem Abzug der römischen Truppen musste auch die römische Oberschicht das Weite suchen, denn „in Augenblicken wie diesen ist es heikel, wenn man reich ist“. Die Besitzer hießen Aurelius und Juliane, das weisen Gravuren im Schmuck nach, sie waren Christen, das belegen einige lateinische Formeln im Schmuck und sie waren sehr reich – das Auffüllen eines Pfefferstreuers muss in dieser Zeit extrem teuer gewesen sein. Der Haushalt vergrub sein bewegliches Vermögen vor der Flucht aus Britannien natürlich in der Hoffnung, dass sie noch einmal hierher zurückkehren würden. Aber erst 1992 fand ein Landwirt den Schatz, als er mit einem Metalldetektor eigentlich nur ein verlorenes Werkzeug suchte.
Ein Faustkeil kann viel erzählen
„Dinge haben die Kraft, uns direkt mit Menschen in Verbindung zu bringen, die uns zeitlich und räumlich sehr fern sind,“ schreibt Neil MacGregor, ehemaliger Direktor des British Museum und der Autor des Buches „Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten“. 100 Objekte aus zwei Millionen Jahren und allen Regionen des Globus geben einen Leitfaden durch die Menschheitsgeschichte. Alle Objekte sind Ausstellungsstücke im Britischen Museum in London.
Eine Million Jahre zurück – ein Faustkeil, gefunden in der Olduvai-Schlucht in Tansania. Auch der Faustkeil hat eine Menge zu erzählen und zwar „nicht nur über die Faust, sondern auch über den Kopf, der ihn hergestellt hat“. Tatsächlich steckt ein Quantensprung der menschlichen Entwicklung darin. Zwar ist auch von manchen Tieren bekannt, dass sie Werkzeuge benutzen; hier aber stellt sich jemand den Faustkeil selber her. Er muss also die Abstraktion fertiggebracht haben, wie der unbehauene Stein einmal aussehen soll. Der Mensch hat sich das ausgedacht und selber hergestellt, es ist der Nachweis von planvoller, zielgerichteter Kreativität, schreibt MacGregor und mehr noch: „Denjenigen, der diesen Faustkeil fertigte, hätten wir als einen der unseren anerkannt.“ Und die Bedeutung des Faustkeils geht noch weiter: Diese neue Technik habe den Menschen in die Lage versetzt, sich erst in Afrika und dann über die ganze Welt auszubreiten.
Eine Million Jahre später, ein steinerner Stößel, gefunden in Papua-Neuguinea, hergestellt um 6000 v.Chr. Es war das Ende der letzten Eiszeit, die Erde erlebte einen rasanten Klimawandel und den Beginn von Ackerbau und Sesshaftigkeit. Aber warum suchten sich die Menschen zum Anbau ausgerechnet Pflanzen aus, die im natürlichen Zustand kaum verdaulich oder sogar giftig waren, wie Gräsersamen, Frühformen des Getreides, Yamswurzel? Diese Geschichte erklärt der Stößel aus Papua-Neuguinea. Die Menschen erschlossen sich damit neue Nahrungsquellen, was ihnen einen Wettbewerbsvorteil verschaffte. Allerdings: Dafür musste man mehrere Schritte vorausdenken können und der steinerne Stößel zum Zermalmen des Getreides war einer davon. Das Küchengerät erzählt aber noch mehr: Bislang mussten die Menschen sich ihren Ökosystemen anpassen und spielten darin nur eine untergeordnete Rolle. Jetzt aber haben sie begonnen, die Natur zu kontrollieren und ihre Umwelt nach eigenem Bild zu gestalten.
Zwangsumsiedlungen sind ein Merkmal von Imperien
So wird, ein Museumsobjekt nach dem anderen, die Geschichte der Welt ausgebreitet. Tausende Jahre später, um 700 v.Chr. kommt man zum Lachisch-Relief aus dem Reich der Assyrer, dem ersten großen Landimperium. Das wandgroße steinerne Relief stellt die Eroberung von Lachisch dar, südwestlich von Jerusalem und 800 km entfernt vom assyrischen Kernland im Nordirak. Das Relief zeigt die Belagerung und Plünderung der Stadt, die Massendeportation seiner Bewohner, Kolonnen von Flüchtlingen und über Allem der siegreiche König. 2700 Jahre ist das her, und diese Methode von Durchsetzung totaler Macht hat sich bis heute gehalten: „Die Strategie der Zwangsumsiedlung von ganzen Bevölkerungsgruppen gehört seither zu den konstanten Merkmalen von Imperien.“
100 Objekte bringt das Buch zum Sprechen und jedes der kurzen Kapitel präsentiert historischen Tiefgang und Expertenwissen in verständlicher, anekdotenreicher Sprache. Das bleibt bis zum Schluss spannend und lehrreich, zum Beispiel dies hier: eine Goldmünze des Krösus, westliche Türkei, 550 v.Chr. Die Münze steht hier aber nicht für legendären Reichtum, sondern zeigt den ersten Goldstandard: Für Reinheit und Gewicht garantiert der Herrscher mit seiner Prägung, das anerkannte Zahlungsmittel machte den weiträumigen Handel möglich.
Überhaupt Münzen, als „Markenzeichen der Herrschaft“ oft benutzt, um sich über seine Vorfahren zu legitimieren. Die Münzen mit dem Abbild von Alexander der Großen hat dieser nicht selber prägen lassen, sie erscheinen erst nach seinem Tod. Indem sie sich auf ihn berufen, wollten die Nachfolger ihren eigenen Herrschaftsanspruch fixieren. Viele der Objekte handeln von Religionen, auch das fördert Erhellendes zu Tage. Nicht überall ist Gott ein Mann und keineswegs alle Religionen stufen Sexualität als sündhaft ein. Eine 700 Jahre alte Skulptur aus Indien zeigt das Götterpaar Shiva und Parvati in eindeutig freudiger Begegnung – Gott ist Mann und Frau gemeinsam und Sexualität ist Teil davon. Das Buch bringt die Objekte zum Sprechen und ordnet sie ein: Wie sind sie entstanden, was bedeuten sie an diesem Ort, zu dieser Zeit und was geben sie uns bis heute mit? Die Ming-Banknote aus China, das goldene Lama aus Peru, die Benin-Tafeln, der Revolutionsteller aus St. Petersburg, chinesische Scherben von der Küste einer Insel vor Tansania. Neil MacGregor: „Mehr als dem reinen Schrifttum wohnt den Objekten eine Kraft inne, Interesse zu wecken und Erkenntnisse zu vermitteln.“
Ein selten kluges Buch
Ein Objekt sei noch beschrieben: das viktorianische Teeservice aus England, Mitte des 19. Jahrhunderts. Eine Teekanne, eine Zuckerdose, ein Milchkännchen. Hergestellt aus Ton, etwas verziert, aber nichts Herrschaftliches, eine „Mittelklassekeramik“. Und doch erzählt sie die britische Kolonialgeschichte. Der Aufbau von Teeplantagen in Indien, der Umbau der Landwirtschaft ganzer Kontinente, die Umsiedlung von Millionen Menschen als Arbeitskräfte. Aufbau einer Zuckerwirtschaft in der Karibik mit Sklaven aus Afrika, die Entwicklung einer Transportbranche mit schnellen Segelschiffen, die den Eigentümern riesige Vermögen einbrachten. Und um es vollständig zu machen: Aufbau einer städtischen Milchwirtschaft in London, damit auch die dritte Zutat frische Milch beim britischen Nachmittagstee nicht fehlt.
Nach 800 Seiten hat man eindeutig etwas mehr von der Menschheitsgeschichte verstanden. Und mit 60 Seiten Sachregister, Ortsregister und Personenregister hat das Buch einen bleibenden Wert als Nachschlagwerk. Fazit: Selten ein so kluges Buch gelesen und beim nächsten Besuch in London steht mindestens ein Tag im Britischen Museum auf dem Programm.
Neil MacGregor – Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten, Verlag C. H. Beck, ISBN 978-3-406-65286-8, 816 Seiten, 25,- €
Inhalt des Buchs mit Liste aller 100 Objekte beckassets.blob
Entstanden ist das Buch aus einer Radioserie des British Museum zusammen mit BBC Radio4. Das Programm steht zum Nachhören auf der Webseite der BBC. Hier sind die Objekte auch abgebildet. bbc.co.uk
Ein Gedanke zu „Die Weltgeschichte“