Biermann bewegt und zornig
von Jörg-Peter Schmidt
Niemand, der diesen besonders eindrucksvollen Jubiläumsabend zum 25-jährigen Bestehen der Gießener Arbeitsstelle Holocaustliteratur erleben durfte, vergisst ihn jemals. Das lag in der ausverkauften Gießener Kongresshalle vor allem am bewegenden literarisch-musikalischen Vortrag von Wolf Biermann.Jizchak Katzenelsons Poem gewürdigt
Der 86-jährige Liedermacher und Schriftsteller, der wie eh und je voller mitreißendem emotionalen Feuer ist, beschrieb das Leben und Wirken des couragierten jüdischen Schriftstellers Jizchak Katzenelson aus Lodz, der 1944 in Auschwitz von den Nationalsozialisten ermordet wurde. Der vom Honecker-Regime 1976 wegen seiner kritischen Unangepasstheit ausgebürgerte Künstler hat vor rund 20 Jahren Katzenelsons aus 15 Versen bestehendem „Lied vom ausgerotteten Volk“ ins Deutsche übersetzt.
Der Historiker Arno Lustiger hatte ihn angespornt, sich mit diesem Sprachschatz zu beschäftigen, der vom Leid des jüdischen Volkes und dem Aufstand sowie seiner Niederschlagung im Warschauer Ghetto berichtet. Wie Biermann in Gießen unterstrich, war Lustigers Botschaft eine bedeutungsvolle: Es sei falsch, dass Juden grundsätzlich sich nicht gegen den Nazi-Terror gewehrt haben.
Wolf Biermann ehrt Dichter-Kollegen
Was dem in jiddischer und hebräischer Sprache schreibenden Dichter Katzenelson widerfahren ist, macht Wolf Biermann auf ewig schmerzhaft traurig und wütend; das war in der Kongresshalle merklich zu spüren. Der Poet und Musiker, dessen Vater Dagobert im KZ Auschwitz umgebracht wurde, zeichnete den Weg in den Tod des Schriftstellerkollegen nach, der beim Warschauer Aufstand mitwirkte. Die Nationalsozialisten verschleppten ihn in das Internierungslager Vittel in der Nähe von Nancy (Frankreich). In diesem Lager waren Gefangene mehrerer Nationen untergebracht, die für den Austausch internierter Deutscher im Ausland vorgesehen waren. Hier entstand das Poem Katzenelsons „Lid funm ojsgehargetn jidischen folk“ („Lied vom ausgerotteten Volk“), das der Nachwelt erhalten geblieben ist. Denn eine mutige, tapfere Frau transportierte die Kopie der Niederschrift über mehrere Grenzen nach Palästina. Katzenelson selbst rettete das Original für die Nachwelt, indem er es zusammen mit einer weiteren Gefangenen unter einem Baum eingrub und versteckte.
Beide Exemplare, die das Leid des jüdischen Volkes, das Morden an den Juden beschreiben, sind in einem israelischen Kibbuz erhalten geblieben. Sichtlich bewegt und bebend vor Zorn las Wolf Biermann das erste und das letzte Kapitel dieses literarischen Meisterwerks vor. So mitreißend war der Vortrag des Liedermachers, dass man das Gefühl hatte, Jizchak Katzenelson würde unsichtbar und doch auf gewisse Weise sichtbar inmitten der voll besetzten Reihen in der Kongresshalle anwesend sein.
Lied „Gräber“ ist Dagobert Biermann gewidmet
Wolf Biermann, der nach wie vor hervorragend Gitarre spielt, trug auch einige Lieder vor. Eines davon mit dem Titel „Gräber“ ist seinem Vater Dagobert gewidmet, der Widerstandskämpfer war und von den Nazis getötet wurde. Am Schluss des Liedes heißt es: „Meines Vaters Grabstein steht überall. Ich brauch sein Grab nicht lange zu suchen – Es ist leicht zu finden – dort wo ein Schornstein raucht.“
Klaus Steinke schuf „Katzenelson-Turm“

Bevor Biermann die Bühne betreten hatte, überreichte der Künstler Klaus Steinke als symbolische Geste an die Justus-Liebig-Universität Gießen einen „Katzenelson-Turm“, in dem in 15 Kästen die 15 Kapitel des „Großen Gesangs“ enthalten sind. Die Jubiläumsfeier, zu der Gießener Institutionen wie das Literarische Zentrum, die Uni-Bibliothek sowie die Stadt mit ihrem Kulturamt beitrugen, begann mit einem Grußwort von Prof. Dr. Sascha Feuchert, der die Arbeitsstelle für Holocaustliteratur (AHL) an der Gießener Universität leitet. Die AHL setzt sich überwiegend mit Texten der Holocaust- und Lagerliteratur auseinander, mit dem Ziel, dass diese Dokumente der Nachwelt erhalten bleiben. Eindrucksvoll habe etwa die 2020 verstorbene KZ-Überlebende Ruth Klüger beschrieben, wie ihre Gedichte – eigene, aber auch die anderer Autorinnen und Autoren – ermöglichten, in Auschwitz nicht den Verstand zu verlieren, sagte Feuchert beispielhaft, wie wichtig es ist, dass Holocaust-Literatur nicht verloren geht.
Feuchert weiter: „Und nach dem Ende des Krieges, nach der Befreiung, war es nicht viel anders: Wer nach dem Überleben weiterleben wollte, der bedurfte nicht selten wieder einer im weitesten Sinne literarischen Struktur …, um die Traumata wenigstens einigermaßen in Schach zu halten“. Die wertvolle Arbeit der Arbeitsstelle für Holocaustliteratur würdigten im Rahmen der Feier Prof. Dr. Katharina Lorenz, Vizepräsidentin der Justus-Liebig-Universität Gießen, Prof. Dr. Hans-Jürgen Bömelburg, Vorsitzender des Fördervereins der Arbeitsstelle Holocaustliteratur und Prof. Joachim Jakob vom Gießener Institut für Germanistik. In den Grußworten wurde an die zuständigen Stellen sowie die Öffentlichkeit appelliert, die AHL weiterhin bzw. noch mehr zu fördern.
Prägender Satz Biermanns über Demokratie
Am Ende der Veranstaltung gab es sehr langen Applaus des Publikums, auch vom ehemaligen hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier sowie von Karl Starzacher (Staatsminister a. D.), Vorsitzender des Stiftungsbeirates der Ernst-Ludwig-Chambré-Stiftung zu Lich sowie Mitgliedern der jüdischen Gemeinde Gießen. Diese würdevolle Veranstaltung, die eine symbolische Verbeugung vor den Holocaust-Opfern war, bleibt in der Tat jedem unvergessen. Es bleibt zu hoffen, dass auch ein prägender Satz Biermanns im Gedächtnis bleibt: „Jede unvollkommenste Demokratie ist besser als jede vollkommenste Diktatur.“ – Titelbild: Wolf Biermann, sichtlich bewegt, beim Schlussapplaus. (Fotos: Jörg-Peter Schmidt)