Eine wahre Geschichte in drei Akten
von Ursula Wöll
Im Seniorenheim „Maria Frieden“ in Gießen erlebte Landbote-Autorin Ursula Wöll Ostermontag nach einer von der Coronapandemie überschatteten Geburtstagsfeier einen Leierkastenmann. Sie hat eine Geschichte in drei Akten darüber geschrieben.Vorspiel
Ostermontag 2020. Mittagsschläfrige Ruhe vor dem Seniorenheim der Caritas „Maria Frieden“ in Gießen. Um 14.30 Uhr wird die Stille beendet durch eine anrückende Verwandtengruppe. Ein großes wirklich schönes Blumenbouquet, eine selbst gebackene Schokoladentorte, in der runden Backform belassen, und etliche Pappkästen sind auf verschiedene Hände verteilt. Man klingelt, rein ins Haus dürfen die Gäste ja nicht wegen der Corona-Gefahr. Die Tür wird aufgeschlossen, und die Geschenke werden von innen abgenommen.
Die 90jährige Oma hat heute Geburtstag. Sie wird vom Personal mit einer Decke über den Knien auf einem Balkon platziert und nimmt von dort gnädig die Glückwünsche ihrer Verwandten entgegen. Diese müssen wegen der etwa 6 Meter Entfernung ziemlich laut schreien. Die beiden kleinen Urenkel werden in die Höhe gehalten und präsentiert. Ich bin gerührt ob der praktisch gezeigten Liebe und Zuwendung. Ob ich mit 90 noch so viele BesucherInnen anlocken kann?
Auftritt der Drehorgel
Kaum sind die Autos der GratulantInnen wieder weg, fährt ein Kleinbus vor. André Lotz entlädt seine Drehorgel aus glänzendem Holz mit Einlegearbeiten und deren Fahrgestell mit den kleinen Gummirädern. Er trägt einen Zylinderhut, wie es die Tradition will. Seine Schwester Sabine nimmt es nicht so genau, sie ist in Bluejeans dabei. Sie macht die Honneurs und beschenkt die HeimbewohnerInnen und das Personal mit großen Schokoherzen mit der Aufschrift „Viel Glück“ aus hellem Zuckerguss. Sie müssen durch die Luft nach oben geworfen werden, wo das Personal die SeniorInnen mittlerweile auf den großen Balkon gebracht hat. Einige bewegen sich nur mühsam mit Rollatoren. Aber allen ist wohl etwas kalt, denn der plötzliche Kälteeinbruch hat einen kalten Wind mitgebracht. So kalt wie in Wilhelm Müllers Lied „Der Leiermann“ ist es aber keinesfalls. Das Gedicht ist das letzte, also das 24te in dem Liederzyklus „Die Winterreise“, der von Franz Schubert vertont wurde. Das beginnt so:
„Drüben hinterm Dorfe
Steht ein Leiermann.
Und mit starren Fingern
Dreht er was er kann.“
Doch André Lotz spielt in der Universitätsstadt Gießen, und er spielt keine Schubertmusik. Auf den Musikrollen in seiner Drehorgel sind flottere Weisen eingraviert. Beim Drehen der Leier bewegt er sich im Walzertakt. Da können die BewohnerInnen nicht so recht mithalten. Besser gesagt, die Beine wollen nicht mehr. Vielleicht kommen ihnen Bilder aus früheren Zeiten in den Sinn, als sie sich zur Musik wiegen konnten. Ich stelle mir vor, dass sie von einer Situation träumen, wie sie der Maler Ludwig Knaus 1859 auf seiner ‚Goldenen Hochzeit‘ dargestellt hat. Auch wenn auf seinem Bild die Musik von einer Fiedel herrührt. Das Gemälde ist zur Zeit im Museum Wiesbaden in der Ausstellung ‚Homecoming‘ zu sehen – stopp!! Alle Museen sind ja zur Zeit ebenfalls geschlossen! Die BewohnerInnen können das Bild gar nicht kennen. Aber alle haben ja ihre eigenen Lebenserinnerungen, und eine Drehorgel versetzt leicht in Nostalgie. Nur das Personal träumt vielleicht von einer Party anstelle des Feiertagsdienstes. Die PflegerInnen gehören zu den wahren HeldInnen unserer Gesellschaft. Gelobt werden sie seit dieser Erkenntnis nun fleißig, doch ihre Gehaltserhöhung wird sich leider wohl in Grenzen halten.
Abgesang
Verlieren wir aber den Drehorgelspieler André Lotz und seine Schwester Sabine nicht aus den Augen und aus dem Ohr. Sie lassen sich Zeit, spielen eine Zugabe und gehen noch an zwei weitere Seiten des Gebäudes, damit noch mehr BewohnerInnen sich freuen können.Es ist nicht das erste Seniorenheim, das sie mit ihrer Drehorgelmusik beglücken. „Mit meiner Orgel will ich mein Scherflein dazu beitragen, um das fast vergessene Zwischenmenschliche neu zu beleben.“ Und André und Sabine Lotz sind nicht die einzigen, die das wollen. Auch aus Wetzlar etwa hört man von einem Gesangsquartett, das vor der verschlossenen Tür des SeniorInnenheims „Casino Wetzlar“ ein Ständchen darbot. Chapeau! Frank-Walter Steinmeier fragte kürzlich: „Bleibt das neu erwachte Engagement für die Gesellschaft? Bleibt die geradezu explodierende Kreativität und Hilfsbereitschaft?“ Freude zu machen macht ja auch Freude. Und deshalb wird die gegenseitige Freundlichkeit sicher noch lange andauern, weil sie eine win-win-Situation darstellt.
Liebe Frau Wöll, so ein liebenswerter Artikel. Genauso ist es im Heim bei uns, alle geben sich Mühe, die Isolation nicht als solche empfinden zu müssen. Ich hoffe, dass die Solidarität und Dankbekundungen auch nach überstandener Krise anhalten.
Bleiben Sie gesund. Gerne können Sie sich unsere Aktivitäten auf unserer Internetseite unter Neues aus der Presse anschauen. Beste Grüße Susanne ter Jung