Texte von Hikmet und Faik
Von Elfriede Maresch
„Leben einzeln und frei wie ein Baum“ mit Lyrik und Prosa der türkischen Autoren Nazim Hikmet und Sait Faik war ein literarisch-musikalischer Abend, zu dem der Vogelsberger Kultur- und Geschichtsverein in das Heimatmuseum Schotten einlud. Seit Jahren führt der Verein das Haus und hat es aufwändig weiterentwickelt.Lust am Begegnen mit Literatur
Die schönen Jugendstilräume im Wohnbereich des Heimatmuseums Schotten waren gerade groß genug für die Interessierten aus der Region, die die Vereinsvorsitzende Dr. Jutta Kneißel begrüßen konnte. Zugleich galt ihr Dank dem Bundesprogramm „Demokratie leben!“, das die Veranstaltung förderte. Vereinsmitglied Christel Schubert, durch langjährige Tätigkeit beim DIPA-Verlag mit moderner Literatur aus Nahost, aus asiatischen und afrikanischen Ländern vertraut, hatte die Lesung vorbereitet, und den Schauspieler Edgar M. Böhlke als Sprecher gewonnen. Angesichts der Ausdrucksstärke von Hikmets und Faiks Texten sei die Entscheidung „Lesen oder Weglassen“ schwer gewesen – das glaubte man Schubert und Böhlke aufs Wort! Der Schauspieler, der in den Ensembles großer Regisseure ein Stück bundesrepublikanische Theatergeschichte mitgestaltete, hat sich bis heute die vitale Lust am (Wieder-)Begegnen mit Literatur bewahrt. Er beherrscht eine schwebende Balance zwischen Lesung und fast szenischem Textvortrag, die auch hier die Zuhörer faszinierte.
Christel Schubert hatte durch private Kontakte den 17-jährigen Ismayil Novruzzade als Musiker gefunden. Im aserbaidschanischen Baku geboren, hat er dort die kaukasische Tar mit elf Saiten spielen gelernt. Inzwischen lebt er mit Mutter und Schwester in Deutschland und besucht die Vogelsbergschule. Er spielte traditionelle aserbaidschanische Musik in feiner Obertönigkeit und freien Rhythmen. Tänzerisch bewegte, träumerische oder melancholische Melodien waren zu hören und zugleich wurde ein biografisches Element aufgegriffen: Hikmet, als Kommunist aus der Türkei verbannt, hielt sich gern in Aserbaidschan und anderen asiatischen Sowjetrepubliken mit Turksprachen auf, suchte dort die verlorene Heimat.
Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse
In einer Eingangsskizze Schuberts wurde das Spannungsfeld der Türkei im 20. Jahrhundert deutlich. So die Atatürk-Reformen, der Entwicklungssprung aus den Resten des osmanischen Reiches, aus einem agrarisch geprägten Land in eine angestrebte Industrienation westlicher Prägung, begleitet von sozialen Konflikten und ethnischen Spannungen. Schubert: „Gedichte als Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse – für die literarische Offenlegung von Missständen nehmen türkische Autorinnen und Autoren das Risiko der Haft oder des Exils in Kauf.“
Hikmet (1902 – 1963) nahm als Begründer der neuen türkischen Lyrik Einflüsse der Moderne auf und ist inzwischen neben dem Romancier Yasar Kemal einer der meistgelesenen Autoren der Türkei. Er war Sohn einer privilegierten Familie, dennoch von sozialer Sensibilität und beeindruckt von der Aufbruchsstimmung der jungen Sowjetunion, wo er zeitweilig studierte. Die Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei der Türkei bescherte ihm ein unruhiges Leben: Lange Gefängnishaft, drohende Todesstrafe, Exil in der Sowjetunion, von wo aus er sich im Weltfriedensrat engagierte. Wie viele andere europäische Intellektuelle setzte er sich erst nach der Geheimrede Chruschtschows und der Rehabilitierung der Opfer damit auseinander, was der Stalinsche Terror mit dem Land seiner Hoffnungen gemacht hatte. Das Publikationsverbot in der Türkei galt selbst über Hikmets Tod hinaus bis 1965.
Sinnlich und welthaltig
Böhlke las in zwei Abschnitten Gedichte aus den Bänden „Die Luft ist schwer wie Blei“ und „Reise ohne Wiederkehr“. Hikmets Lyrik erwies sich als sinnlich, welthaltig: die Industrielandschaft der Erdölmetropole Baku und ihre Arbeiter werden anschaulich beschreiben, im Blick auf anatolische Küstenstädte („…sonnig wie die Orange, glänzend wie ein quicklebendiger Fisch…“) wird zärtliche Heimatverbundenheit sichtbar. Bei Hikmets selbstironischem Gedicht „Autobiografie“ („…mit 30 wollten sie mich hängen, mit 48 mir den Friedenspreis geben, den ich auch bekam…“) fühlten sich manch Zuhörer an die dialektische Innensicht Bertolt Brechts erinnert.
Sait Faik (1906 – 1954) Begründer der modernen türkischen Kurzgeschichte, war ein Individualist, ein Beobachter insbesondere der Menschen in sozialen Grenzsituationen. Von den Sehnsüchten und Stolpersteinen im Leben kleiner Leute handelt sein Roman „Ein Lastkahn namens Leben“, aus dem Böhlke las. Schicksalsschläge, etwa eine Typhusepidemie, werden fast fatalistisch hingenommen. Es ist allenfalls ein Zipfel vom „kleinen Glück“, den Faiks Helden erhaschen und wieder verlieren.
Schuberts sorgfältige Vorbereitung, das Saitenspiel Novruzzades, Böhlkes Stimme und Mimik in der Wohnzimmeratmosphäre des Museums unterstrichen die farbige Bildhaftigkeit dieser Literatur. Das Publikum dankte mit lebhaftem Applaus.
Titelbild: Sie boten eine faszinierende Begegnung mit türkischer Literatur (v. li. Ismayil Novruzzade (Tar), Edgar Böhlke (Sprecher) und Christel Schubert (Vorbereitung)