Kurt Moosdorf

Der Landrat, sein Enkel und die Sparkassen

Von Klaus Nissen

Eine Mail aus Washington ploppte ins Postfach der Redaktion. Der Absender: Mark Cassell, Professor für Politik und Wirtschaft bei der Kent State University. Er sei der Enkel des Landrats Kurt Moosdorf. Als Kind und Jugendlicher habe er die Sommerferien immer in Büdingen verbracht. Dabei lernte der junge Kalifornier auch die Sparkasse kennen, die sein Opa als Verwaltungsratsvorsitzender führte. Und nun, berichtet Mark Cassell, habe er ein Buch über deutsche Sparkassen geschrieben. Denn die seien vorbildliche Institute, die auch in den USA dringend gebraucht würden. Grund genug, nachzulesen, was an den Sparkassen so toll sein soll. Und in die alten Zeiten zu schauen, in denen Kurt Moosdorf eine Landschaft regierte, die sich inzwischen stark verändert hat.

Der Landrat, der seinen Landkreis verlor

Vielen Wetterauern ist der Mann kein Begriff mehr. Dabei sind eine Schule (in Echzell) und gleich drei Straßen nach Kurt Moosdorf benannt. Eine in Büdingen, parallel zur Lorbacher Straße. Eine in Rommelhausen. Und eine in Bad Vilbel – die aber garnicht an den von 1946 bis 1972 amtierenden Landrat des Altkreises Büdingen erinnert. Sondern an seinen Vater.

Vorn im Jeep der Landrat, hinten ein US-Offizier auf Dienstfahrt durch Büdingen. Den Amerikanern hatte Kurt Moosdorf sein Amt zu verdanken. Später machten auch die demokratisch gewählten Kreistage den Mann mit dem leicht schräg sitzenden Hut immer wieder zum Chef im Landratsamt. Das um 1970 entstandene Foto stammt aus dem Familienalbum seines Enkels Mark Cassell.

Schon Kurt Moosdorf Senior war eine wichtige Persönlichkeit: Der gebürtige Thüringer wurde 1928 Bürgermeister von Bad Vilbel. Die Nazis setzten den Sozialdemokraten 1933 ab. Nach deren Vertreibung kam er von 1946 bis 1955 wieder ins Amt. Der alte Moosdorf gehört zu den Autoren der hessischen Verfassung; er saß im ersten Landtag und ab 1952 auch im ersten Bundestag.

Kurt Moosdorf der Jüngere wurde 1910 geboren und zählte zur Stalingrad-Generation. Als junger Mann war er Beamter im Gießener Rathaus. Wie auch sein Vater musste Moosdorf junior 1933 wegen seines SPD-Parteibuchs den öffentlichen Dienst verlassen, berichtet sein Enkel Mark Cassell. Kurt Moosdorf wurde Verkaufsleiter beim Ölkonzern Shell in Wien, musste nach dem Anschluss Österreichs zur Wehrmacht und war bis Kriegsende in der Ölstadt Baku am Kaspischen Meer stationiert.

Die Amerikaner setzten Moosdorf ins Amt

Im Frühjahr 1945 eroberte die US-Armee die Wetterau. Sie setzte Kurt Moosdorf 1946 als Landrat des Kreises Büdingen ein. Moosdorf zog mit Ehefrau Lina, Tochter Ilse und Sohn Günther (der heute in Ortenberg lebt) in den ersten Stock des Büdinger Landratsamtes, später in einen Neubau dahinter und um 1970 in ein eigenes Haus am Junkerngarten – hinter die Büdinger Sparkasse, die Moosdorf als Landrat auch 26 Jahre lang im Vorstand und als Leiter des Verwaltungsrates dirigierte.

Aus dem Funktionär der Besatzungsmacht wurde bald ein demokratisch gewählter Landrat, der mit seinem Amt regelrecht verschmolz. „Er war sehr ernst und anspruchsvoll“, erinnert sich der Enkel an seinen Opa. „Er war sehr formell. Und die hohen Tiere haben alle meine Oma begrüßt, wenn sie uns beim Einkaufen in der Stadt trafen.“

Der kalifornische Enkel Mark Cassell in den frühen Siebzigern auf der Terrasse von Oma und Opa in Büdingen. Foto: Privat

Dass der Landrat einen amerikanischen Enkel hatte, fiel in Büdingen nicht besonders auf. In der Stadt war eine US-Heeresfliegereinheit stationiert. Doch bei den Moosdorfs kommt der US-Bezug aus einer anderen Richtung. Die Landrats-Tochter Ilse arbeitete in den frühen Sechzigern beim Frankfurter US-Konsulat. Da besuchte sie eines Tages ein amerikanischer Journalist, der seinen Reisepass verloren hatte. Die beiden verliebten sich, heirateten und zogen nach Los Angeles.

Für jedes Dorf ein Kindergarten

Damit der Kontakt nicht abriss, finanzierten Kurt und Lina Moosdorf ab 1971 in jedem Sommer die Reise des Enkels und seiner zwei Jahre jüngeren Schwester über den Atlantik. Sechs Wochen lang hieß es für sie Büdingen statt Los Angeles. „Da hat man in einer ganz anderen Welt gelebt“, erinnert sich der heute 56 Jahre alte Mark Cassell in immer noch ausgezeichnetem Deutsch. Der Opa war zwar viel beschäftigt und „sehr formell“, aber er kümmerte sich auf seine Art auch um die Enkel. „Er hat uns Straßen, Schulen, Bäder gezeigt, die für die Bevölkerung wichtig waren. Und viele Menschen glaubten, dass mein Opa für den Aufschwung verantwortlich war.“

Es ging unter Moosdorf tatsächlich voran in dem rückständigen Landkreis zwischen Schotten-Rudingshain im Norden und Mittelgründau im Süden, zwischen Berstadt im Westen und Illnhausen im Osten. „In jedem Dorf eine Schule, ein Kindergarten und ein Kinderspielplatz“ hieß die Devise des Landrats. In Kurt Moosdorfs Amtszeit wurden zahlreiche Bürgerhäuser, Feuerwehrstützpunkte gebaut und Feldwege betoniert.

Die Landwirte bekamen Aussiedlerhöfe

Aus den verwinkelten Dörfern holte man die Landwirte auf neue Aussiedlerhöfe zwischen den Feldern. Allein in Wenings siedelten 15 Bauern aus. Es gab da immer noch 6000 (!) Bauernfamilien im 730 Quadratkilometer großen Landkreis. Moosdorf war klar, dass die meisten von Ihnen bald andere Arbeitsplätze brauchten. „Industrieansiedlung ist eins der wesentlichen Probleme, die der Landkreis in den nächsten Jahren zu lösen hat“, sagte er im Januar 1963 einem Reporter des Hessischen Rundfunks ins Mikrofon. Sie standen auf dem verschneiten Hoherodskopf vor einem mächtigen Militärhelikopter, der Moosdorf und einige US-Offiziere zur Begutachtung von Manöverschäden auf den Gipfel geflogen hatte.

Der Film geriet zu einem anrührend altmodischen Kreis-Porträt, das immer noch in der HR-Mediathek unter der Adresse

https://bit.ly/3cBfOWq

abrufbar ist. Zu sehen sind da auch männliche Kurgäste des Sanatoriums am Hillersbach, die mit nackten Oberkörpern im Schnee tollen und ihre Bauchmuskeln präsentieren. Und die „behäbigen Fachwerkhäuser“ von Büdingen, laut Reporter „eine stille Stadt, in der selten aufregende Dinge geschehen.“ Das stimmte schon damals nicht. Die US-Soldaten tobten ihre überschüssige Energie in der Freizeit unter Alkoholeinfluss aus. Und wenn sie wieder mal den Büdinger Frosch umgeworfen hatten, musste Landrat Moosdorf beim Colonel vorstellig werden. Er kam mit den Offizieren gut klar – sie luden ihn zu Besuchen in die USA ein, bei denen er auch den Baseball-Star Walter „Dutch“ Ruether (1893-1970) kennenlernte.

Kurz vor der Fusion der Landkreise Büdingen und Friedberg entstand diese Karikatur von Kurt Moosdorf, der wie der späte Napoleon sein Reich zu retten versuchte und es dann doch verlor.

Kurt Moosdorf war in seinem Kreis eine Art König, der die Bürger immer dienstags und donnerstags empfing, um Probleme und Beschwerden aufzunehmen und zu lösen. Auch jenseits des Kreises nahm er Einfluss. Moosdorf gehörte zu den Gründern des Landkreistages und wurde 1965 Präsident der mächtigen Interessenvertretung aller hessischen Kreise. Daheim konnte Moosdorf tun, was ihm sinnvoll erschien. So setzte er 1967 den Kauf der Lungenheilstätte im Gierbachtal außerhalb von Schotten durch, obwohl sie für ein Akutkrankenhaus baulich nicht recht geeignet war. 54 Jahre und viele Millionen Euro später ist das Krankenhaus dort noch immer in Betrieb.

Die Karriere Moosdorfs neigte sich, als um 1970 die hessische Gebietsreform diskutiert wurde. Die Fusion seines Landkreises mit dem vom Parteifreund Erich Milius geführten Kreis Friedberg passte dem Büdinger Hierarchen garnicht. Vergeblich versuchte Moosdorf, den heutigen Wetteraukreis zu verhindern. „Kreis Büdingen bleibt in seinen Grenzen bestehen“ titelte der Kreis-Anzeiger zwar am 1. April 1972. Doch es war nur ein Scherz.

Diese Karte zeigt das Reich von Kurt Moosdorf. Der Altkreis Büdingen umfasste bis zur Auflösung im Jahre 1972 auch Teile des heutigen Vogelsberg- und des Main-Kinzig-Kreises. Grafik: Wikipedia

Der junge Rolf Gnadl wurde aus Friedberg ins Büdinger Landratsamt geschickt, um die Fusion vorzubereiten. Noch gut erinnert sich der spätere Landrat und OVAG-Vorstand an die eisige Atmosphäre, die ihn dort empfing. Auch der Junglehrer Joachim Pollmar fand keinen Draht zum alten Landrat, als er kurz vor der Kreisfusion noch Willi Zinnkann als Chef der SPD-Fraktion im Büdinger Kreistag ablöste. Pollmar wurde später Erster Kreisbeigeordneter. Zinnkann blieb noch bis 1976 Bürgermeister von Büdingen. Moosdorf musste im Sommer 1972 in die Rente gehen. Die vielen Auszeichnungen für sein Lebenswerk dürften ihn kaum getröstet haben.

Moosdorf hielt es nicht lange daheim auf dem Sofa am Junkerngarten aus. „Er war immer auf Tour“, sagt sein Enkel Mark Cassell. Und reiste auch wochenlang durch die USA, von wo er dem Kreis-Anzeiger eine ganze Serie seiner Erlebnisse und Eindrücke schickte. Am 5. Juni 1980 starb Moosdorf mit 70 Jahren. Er ist auf dem Alten Friedhof in Büdingen begraben.

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