Flüchtlinge

„Es wird sich nochmal zuspitzen“

Von Klaus Nissen

Fast 5000 Menschen landeten 2022 auf ihrer Flucht vor Armut, Krieg oder Diktatoren in der Wetterau. Bei ihrer Unterbringung „stoßen wir tatsächlich an Grenzen“, sagt die Sozialdezernentin Stephanie Becker-Bösch. In der Bevölkerung haben viele die Dramatik der Lage noch nicht erkannt, hieß es Ende März 2023 bei der Flüchtlingskonferenz im Friedberger Landratsamt des Wetteraukreises. Dringend gesucht werden Freiwillige, die sich der Neu-Wetterauer und ihrer vielen Probleme annehmen.

Immer schwieriger, Flüchtlinge unterzubringen

Man stelle sich vor: Bis zum Jahresende kommt die Bevölkerung von ganz Ober-Mörlen oder auch Florstadt neu in den Wetteraukreis. Fünftausend Kinder, Frauen und Männer ohne Deutschkenntnise und Geld, die sofort ein Dach über dem Kopf brauchen.

Die Gebäude der früheren US-Kaserne werden dem Dornröschenschlaf entrissen. Immer mehr von ihnen dienen als Unterkünfte für geflüchtete Menschen. Foto: Nissen

Diese Menschen mit dem Nötigsten zu versorgen ist die schwere Aufgabe des Landrats und der 25 Bürgermeisterinnen und Bürgermeister. Sie können nicht mehr wie 1946 einfach Wohnungen requirieren. Und auch nicht wie 2015 auf viele ehrenamtliche Helfer zählen. Denn nur 50 bis 200 sind übrig geblieben, schätzt Johannes Hartmann vom Internationalen Zentrum Friedberg.

Jede Woche kommen 40 Menschen hinzu

Man werde noch intensiver als bisher um Helferinnen und Helfer werben, versprach Landrat Jan Weckler während der Diskussion im Plenarsaal des Kreishauses. Denn momentan kämen jede Woche 40 bis 50 weitere Menschen in den Kreis. Eine Entspannung sei nicht in Sicht. „Es wird sich noch mal zuspitzen“.

Die Erstaufnahmestellen des Landes betreuen in der Friedberger Ex-Kaserne bis zu tausend Ankömmlinge, in der Büdingen sind es bis zu 800. Der Kreis und die Kommunen betreiben zusätzlich 98 Gemeinschaftsunterkünfte mit mehr als 2000 Betten. Allein 2022 kamen 900 Plätze hinzu.

Aktuell entstehen diese neuen Unterkünfte

Weil es nicht genug feste Unterkünfte gibt, müssen Leichtbauhallen her – Metallgestänge mit Wänden und Dächern aus Kunststoff. Im Frühjahr 2023 entsteht eine Leichtbauhalle mit rund 60 Bettenplätzen auf einer Freifläche am Rosbacher Bahnhof gebaut. Sie soll im dritten Quartal 2023 belegt werden.

Eine weitere Leichtbauhalle entsteht neben der bestehenden Container-Unterkunft der Gemeinde am Ortsrand von Wöllstadt in Richtung Okarben. Auch hier sind rund 60 Bettenplätze geplant, die Belegung erfolgt voraussichtlich im dritten Quartal.

Weitere 150 Menschen werden nach Auskunft des Kreises in einer Leichtbauhalle auf dem Gelände der Friedberger Kaserne untergebracht – voraussichtlich Anfang des dritten Quartals 2023.

Wohnen im früheren Supermarkt in Bad Nauheim

Parallel dazu mietet der Wetteraukreis den ehemaligen Lidl-Markt in der Frankfurter Straße in Bad Nauheim. Er soll ab Mitte des dritten Quartals Platz für 88 Menschen bieten. Zusätzliche Bettenplätze entstehen darüber hinaus in einem Gebäude An der Birkenkaute, das in der Vergangenheit bereits von der Stadt Bad Nauheim als Flüchtlingsunterkunft genutzt wurde – hier sollen etwa 80 Personen untergebracht werden. Die Inbetriebnahme ist bereits für April 2023 vorgesehen.

In Karben baut der Wetteraukreis ein ehemaliges Fitnessstudio zur Flüchtlingsunterkunft um. Hier sollen rund 50 Personen Obdach finden. Im Außenbereich wird ein Küchencontainer aufgestellt. Die Belegung erfolgt voraussichtlich ab Juni 2023.

Kinder wohnen neben der Schule

In der Alten Schule in Reichelsheim, die dem Wetteraukreis gehört, sollen maximal 30 Bettenplätze für Flüchtlinge entstehen. Aktuell wird noch der Bau einer Fluchttreppe vorbereitet Die Menschen sollen voraussichtlich ab Juli 2023 einziehen. Darüber hinaus beabsichtigt der Wetteraukreis, das ehemalige Hotel „Cockpit“ anzumieten. Hier können vorerst bis zu 28 Menschen unterkommen, eine Erweiterung bis Jahresende auf 40 Plätze ist geplant.  

Anneliese Eckhardt von der Bürgerhilfe Florstadt kümmert sich seit neun Jahren um Geflohene vor Ort. Sie hätte gern mehr Engagierte, die den Menschen den Inhalt der amtlichen Briefe verständlich machen. Außerdem sollten sich die Handwerkskammer und die Industrie- und Handelskammer mehr um die Ausbildung der Neu-Wetterauer kümmern. Foto: Nissen

Sechs Plätze für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge entstehen Anfang April in der ehemaligen Hausmeisterwohnung der Eichendorff-Schule in Niddatal. Die jungen Menschen werden tagsüber von pädagogischen Fachkräften betreut, nachts und am Wochenende wird ein Sicherheitsdienst eingesetzt.

In Gesprächen mit der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BIMA) konnte Landrat Jan Weckler 2022 gemeinsam mit der Stadt Friedberg erreichen, dass neben den bereits angemieteten Gebäuden 3617 und 3619 nun auch die sogenannten „4000er-Gebäude“, die an die Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Hessen angrenzen, an den Kreis vermietet werden. Hier können mindestens 500 Bettenplätze entstehen. Derzeit prüft ein Fachplaner das Gebäude, anschließend wird es saniert und bewohnbar gemacht. Die Belegung kann aufgrund des Gebäudezustandes voraussichtlich erst 2024 erfolgen.

Stephanie Becker-Bösch (SPD) ist als Sozialdezernentin zuständig für die Unterbringung von Geflüchteten im Wetteraukreis. Keine leichte Aufgabe. Bild: Petra Ihm-Fahle

Weitere Unterkünfte werden verzweifelt gesucht, aber kaum noch gefunden. Es gebe ein Akzeptanzproblem, so Landrat Weckler. Viele Einheimische plagten Ängste um die eigene Zukunft. Einmal hat der Kreis laut Stephanie Becker-Bösch ein Quartier mit 30 Plätzen in fünf Monaten intensiver Arbeit bezugsfertig gemacht – und bekam kurz vor der Belegung die Absage des Eigentümers. Für andere Wohnobjekte würden „unverschämte Konditionen“ aufgerufen, berichtete Larissa Mourek vom Fachdienst Migration im Kreishaus.

Von den 4898 Neuankömmlingen des vorigen Jahres stammen 3564 aus der Ukraine. Viele kommen privat unter und sind nach Aussage des Jobcenter-Sprechers Lennart Simon motiviert, eine Arbeit aufzunehmen. Leider fehle Personal für Sprachkurse. Mühsam sei es, vorhandene Ausbildungsabschlüsse nachzuweisen. Und junge Leute müssten die Berater immer wieder darauf hinweisen, dass eine Handwerks-Ausbildung hier genauso gut ist wie eine Arbeit in einer IT-Abteilung.

Bürokratie zwingt zu unnötigen Fahrten

In den Gemeinschaftsunterkünften sind Menschen aus Afghanistan mit 35 Prozent die größte Gruppe. Sie haben wie alle Geflohenen kaum eine Chance, die amtlichen Briefe zu verstehen. Und wie seit 2015 zwingt die deutsche Bürokratie jeden neuen Flüchtling aus Afghanistan, zum Bonner Generalkonsulat der Taliban zu fahren. Da erhält er gegen Gebühr die Auskunft, dass er keinen Reisepass bekommt. Erst danach gibt es die „Fiktionsbescheinigung“, ohne die kein Geld für Lebensmittel fließt.

Die Geflüchteten aus der Ukraine haben es etwas leichter. Sie bekommen sofort Sozialhilfe. Im Exil stellen manche die Flexibilität der deutschen Behörden auf die Probe. Etliche Ukrainer seien mit ihren Haustieren angereist, berichtete Larissa Mourek. Hund und Katzen seien in Gemeinschaftsunterkünften aber nicht vorgesehen. Andere Familien verschwanden aus der Unterkunft, ohne sich abzumelden und standen Monate später wieder vor der Tür. Das kommt nicht gut an.

Carl Cellarius hält es für wichtig, dass die Menschen eine Beschäftigung haben. Foto: Nissen

Vor allem die jungen Männer brauchen eine Beschäftigung, meinte der ehrenamtliche Kreisbeigeordnete Carl Cellarius. „Früher machten wir Brandschutzausausbildungen, Rundgänge durch den Ort, Nähkurse und Verkehrsschulungen. Das gibt es alles nicht mehr.“ Dafür müssten die Vereine mehr auf die Neuankömmlinge zugehen, schlug Barbara Unger aus Altenstadt vor.

In Sachen Kriminalität machen die jungen Zuwanderer keine besonderen Probleme, sagte der Chef der Friedberger Polizeistation. Die Zahl der Straftaten ist laut Christof Stark in der Wetterau geringer als anderswo. In Friedberg, Büdingen und Nidda spricht der polizeiliche Integrationsbeauftragte Berkhan Samanchi mit Geflohenen über die „Spielregeln“ in Deutschland. „Das wird sehr gern angenommen“, berichtete er.

Wer Fragen zum Thema hat, erreicht die Kreisverwaltung unter der Mailadresse vielfalt@wetteraukreis.de.

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