Bahnstrecke zu Fuß erlebt
Von Detlef Sundermann
Noch einmal die Horlofftalbahn zwischen Wölfersheim-Södel und Hungen zu Fuß erleben – bevor der Zug kommt. Vorarbeiten zur Reaktivierung der Strecke laufen.Der 4. April 2003 sitzt manchem Pendler vielleicht heute noch in den Knochen. Gegen 20 Uhr soll es gewesen sein, als der letzte Zug auf der eingleisigen Strecke zwischen Södel und Hungen rollte. Wer jetzt kein Auto hatte, musste fortan den Bus nehmen. Die Deutschen Bahn hatte damit einen Teil der 1897 eröffneten Horlofftalbahn amputiert. Leute, die man heute zwischen Hungen und Södel fragt, können sich noch immer keinen Reim auf den Grund machen.
Nahezu betriebsbereit
In Anlehnung an einen Udo Lindenberg Song kann es am mittlerweile hübsch sanierten Bahnhof Södel heißen: Hinter dem Prellbock geht es weiter. Die 12,2 Kilometer lange Gleisanlage liegt nach 18 Jahren des Nicht-Nutzens immer noch in Bestzustand vollständig da – naja, fast vollständig. Dort wo an einigen Stellen die Straße die Schienen kreuzt wurde mittlerweile drüber aspaltiert. Nicht jedoch an der stark befahrenden B455. Es ist der Weitsicht der Politik in Hungen und Wölfersheim zu verdanken, dass sich der Abschnitt heute nahezu im betriebsbereiten Zustand befindet und nicht, wie es etwa bei Laubach geschah, zu einem Radweg mutierte. Die beiden Kommunen kauften 2011 im festen Glaube an die Wiedereröffnung die Gleisanlage und investieren seitdem in den Erhalt rund 180 000 Euro. Angeblich soll sogar die Signaltechnik noch funktionieren. Aber die Schienen sind an wenigen Stellen etwas wellig und die große Zahl morscher Holzschwellen, aus denen das imprägnierende Teeröl weitgehend herausgeschwitzt ist, entsprechend eben nicht dem Sicherheitsstandard der Deutschen Bahn. Schließlich soll künftig nicht wieder der legendäre, rote Uerdinger Schienenbus fahren, der zuletzt mit Tempo 50 über die Schienen rumpelte, sondern moderne Fahrzeuge mit bis zu 80 Stundenkilometern.
Ein Schienenweg ist natürlich kein Wanderweg. Schon der 40 bis 50 Zentimeter Takt der Schwellen, lässt einem bald spüren, wo sich am nächsten Tag Muskelkater melden könnte. Zwei Schwellen mit einem Schritt nehmen geht auch – aber nicht lange. In den Schotter treten, erhöht den Gehkomfort eher nicht, ebenso der Gang am Rande des Gleisbettes. Auf einer der Schienen mehr als zwölf Kilometer balancieren, ist hingegen eher was für Artisten. Die Leute sagen, gelegentlich fahre eine Draisine. Das wäre eine ideale Lösung für die Erkundung der Strecke. Im Wölfersheimer Rathaus heißt es dazu, das sei die Freiwillige Feuerwehr und überhaupt gehe das nunmehr wegen Corona sowieso nicht. Das Begehen des Gleises sei außerdem nicht erwünscht, auch wenn die Strecke aktuell definitiv ohne Zugverkehr ist und selbst das gröbste Schuhwerk der von Schottersteinen gehaltenen Bahntechnik nichts anhaben kann. Immerhin wiegt ein Meter Eisenbahnschiene 40 Kilogramm! Es gibt einen parallel verlaufenden Radweg, lautet die Alternative aus dem Rathaus … .
Es geht voran
Bis Berstadt säumen nicht nur Bäume, sondern vor allem die Rückseiten von Wohnhäusern mit zum Teil liebevoll angelegten Gärten die Linie. Berstadt selbst tangiert die Trasse nur auf Distanz, es geht durch das weniger liebevolle Gewerbegebiet, das allen voran von den bordeauxroten Kuppeln der gewaltigen Biogasanlage geprägt wird. Am Übergang der B455 steht ein Vermessungstechniker der Bahn mit seiner Gerätschaft im Gleis. Mit einer Drohne sei die Strecke schon abgeflogen worden, wegen des vielen dichten Grüns sei jedoch von oben nicht alles erfasst worden, sagt der Mann. Die Daten würden für die Planung benötigt. „Es geht hier schwer voran“, sagt er. Das ist auch sichtbar. In bestimmten Abständen finden sich frische signalgelbe Farbmarkierungen oder in rot Buchstaben und Ziffern auf den Schienen. Für den Neuanfang wird das Gleis jedoch kaum liegen bleiben. Schon die Schwellennägel geben den Grund mit „62“. Das Material wurde 1962 verlegt und abschnittsweise 1965, 1969 und 1971 erneuert.
Nach Berstadt-Wohnbach folgt der Halt Obbornhofen-Bellersheim, der Mitten im Feld liegt. Verwunderlich, da die beiden Ortschaften immerhin mehr als eineinhalb beziehungsweise zwei Kilometer entfernt liegen. Vielleicht war es wegen der Rauch und Staub ausstoßenden Dampflok, die vor dem Schienenbus fuhr. Fahrgäste könnten hier aber auch wegen des rund 150 Meter entfernten Sachsensees ein- und ausgestiegen sein – als das 35 Hektar große Gewässer noch nicht so hießt. Über 14 Jahre wühlte sich bis 1975 dort ein Schaufelradbagger durch die Erde, um im Tagebau Braunkohle für das einstige Kraftwerk bei Wölfersheim zu fördern. Begrünung und das Volllaufen der Grube haben die Wunde heute kaschiert. Überhaupt lässt sich von diesem Bahnhalt allein Wetterauer Feldflur mit Streifen von Wald ausmachen. Der Wind geht böig durch die vielen endlos wirkenden Maisfelder, mit denen mutmaßlich die Biogasanlage beschickt wird. Ein stetiger Wechsel vom milden Blau bis tiefen Grau zeigt sich am Himmel, aus dem auch mal plötzlich ein Schauer fällt – gelegentlich auch über den eigenen Kopf.
Gut ein Meter fünfzig thront der Bahndamm über den Äckern, als ob die Erbauer der Strecken den Fahrgästen auf diese Art und Weise die Pracht der Wetterau zeigen wollten, die sich in sanften Hügeln ausbreitet. Dann folgt eine – für Bahnfahrzeuge – scharfe Kurve hinunter nach Inheiden. Der VT95 oder später der VT98 hatten jedoch einen kurzen Radstand, der sie „wendig“ machte. Nach der Biegung brummt der Motor noch einmal auf, um im Leerlauf weiter zurollen, lässt es sich vorstellen. Nach Inheiden schneidet sich das Gleis durch ein enges Tal, das dicht von Bäumen und alten, leitungslosen Strommasten säumt wird. Bis Hungen Bahnhof ist es nun nur noch ein kurzes Stück.
Die geplante Reaktivierung
2018 ergab eine Machbarkeitsstudie des Hessischen Wirtschaftsministerium zu stillgelegten Bahnstrecken, dass eine Reaktivierung der Horlofftalbahn mit rund 700 Fahrgästen am Tag durchaus rentabel sei.
Im November 2020 hieß es aus Wiesbaden, dass das Land die Planungskosten zu Reaktivierung in Höhe von 4,3 Millionen Euro bereitstellt.
Die Baukosten werden voraussichtlich 25 Millionen Euro betragen. Laut derzeitigen Stand soll die Strecke bis Ende 2025 in Betrieb gehen. Bis dahin sollen auch die benötigten elektronischen Stellwerke Beienheim und Gießen–Nidda fertig sein.
In den Verkehrshauptzeiten soll der Zug von Gießen bis Frankfurt durchgehen. Laut Landesprodukt Mobiles Hessen 2030 wird die Horlofftalbahn in den Hauptverkehrszeit im Halbstundentakt und in der Nebenverkehrszeit im Stundentakt rollen.
2 Gedanken zu „Horlofftalbahn“