Wunderbare Ausstellung
von Jörg-Peter Schmidt
Wer in Gießen wohnt, begegnet früher oder später dem „Manischen“. Ein Beispiel: In Kneipen will man ein „Lawinche schwäche“ und meint damit, dass man ein Bier trinken möchte. Eine sehenswerte Ausstellung im Oberhessischen Museum (Altes Schloss, Brandplatz) in Gießen widmet sich dem „Manischen“ und den Menschen, die es „pucke“ (sprechen) sowie den betreffenden Stadtgebieten.Die Kabinettausstellung, die bis zum 1. Mai 2022 dauert, war schon bei der Eröffnung gut besucht, wobei selbstverständlich die entsprechenden Corona-Hygieneregeln beachtet wurden. Die Dokumentation ist sehr sorgfältig und detailreich vorbereitet worden, wie man sich überzeugen konnte: Fotografien oder andere Zeitzeugnisse schildern die Historie. Man kann sich Kopfhörer ausleihen und Ton- oder Filmdokumente anhören bzw. ansehen.
Bevölkerung kann Beiträge leisten
Dr. Katharina Weick-Joch (Leiterin des Museums) und Kurator Mario Jorge Alves eröffneten diese in Gießener Museen bisher einzigartige Ausstellung. Sie wiesen ausdrücklich darauf hin, dass sich die Bürgerinnen und Bürger mit Exponaten an der Dokumentation beteiligen können (beispielsweise als Zeitzeugen oder mit historischem oder aktuellem Material).
Dr. Katharina Weick-Joch freute sich, dass diese Präsentation unter dem Titel „Digge mal“ (Schau mal) gleich am ersten Tag solch guten Zuspruch fand.
Wie der Name „Gummiinsel entstand
Mario Jorge Alves berichtete von den Gesprächen, die er mit den Menschen in einigen der Wohngebiete geführt hat, die es in Gießen seit vielen Jahrzenten an Stadträndern gab oder gibt. Das sind vorwiegend: Die „Margaretenhütte“, die „Gummiinsel“ und in deren Nähe die „Lederinsel“ und es gibt noch „Eulenkopf“. Alves hatte keine Probleme, mit den dortigen Bürgern in Kontakt zu kommen und mit ihnen über ihr Leben zu sprechen.
Der Name „Gummiinsel“ entstand übrigens, weil viele der dortigen Bewohner für die Gummifabrik Poppe & Co arbeiteten (Herstellerin für die Gummiringe der Einmachgläser). Die „Lederinsel“ lag in der Nähe zur „Gumminsel“. Soweit ein Ausschnitt aus den Erläuterungen in der Ausstellung zu den Namensbezeichnungen.
Die Geschichte dieser Stadtgebiete, deren erste Bewohner sich Ende des 19. Jahrhunderts ansiedelten, kommt nicht zu kurz, wenn man mit den dortigen Menschen spricht. Zudem ist sie in verschiedenen Veröffentlichungen erläutert: Ein Beispiel: „Tschü Lowi – Das Manische in Gießen“ von Hans-Günter Lerch. „Tschü Lowi“ bedeutet „kein Geld“,
Stadtgebiete wurden lange ausgegrenzt
In der Ausstellung, die man kostenlos besuchen kann, wird verdeutlicht: Die Gießener aus beispielsweise der „Gummiinsel“, von denen viele sehr arm waren, wurden ausgegrenzt, wobei lange eine diskriminierende Stadtpolitik eine wesentliche Rolle spielte. Als Kind wurde man von vielen Eltern oder in der Schule mit den Worten belehrt: Wenn du so weitermachst, landest du noch in der „Gummiinsel“.
Verbesserung erfolgten vor allem erst durch Initiativen von Studierenden und der Gemeinwesenarbeit ab den 1970-er Jahren. Wie auch aus einer Pressevorlage der Stadt Gießen hervorgeht, erlangte durch die Studenteninitiative Eulenkopf e.V. um den Psychoanalytiker Horst-Eberhart Richter das Viertel „Eulenkopf“ bundesweite Aufmerksamkeit. Gemeinsam mit den Eulenkopfbewohnerinnen und – bewohnern schaffte die Gruppe es, Druck auf die Stadt auszuüben und die dortige prekäre Lebenssituation der Menschen zu verbessern.
Vereine tragen zum Kontakt bei
Auch hat die Vereinsarbeit dazu beigetragen, dass in Gießen Verbindungen zu den sogenannten „Randvierteln“ geschaffen wurden. Beispielsweise einige der Fußballvereine spielen schon immer eine große Rolle im Sport. Auch darüber werden die Besucher der Ausstellung sprechen, wenn sie sich die Fotografien, Schautafeln und Filme über diese Stadtgebiete anschauen, in denen bestimmte Handwerke, verschiedene Berufe Tradition haben. Dazu gehören Schausteller, Eisenwarenhändler und Scherenschleifer.
Opfer des Nationalsozialismus
Behandelt wird in der Dokumentation im Alten Schloss auch das dunkle Kapitel Gießener Geschichte: Die Verfolgung und Ermordung auch der Jenischen während der Zeit des Nationalsozialismus. Jedes Jahr wird in Gießen am Gedenkstein am Berliner Platz der Opfer gedacht.
Sondersprachen werden erläutert
Sehr interessant sind auch die Informationen über das Entstehen der Sondersprache des Manischen. Sondersprachen haben sich über Jahrhunderte entwickelt und basieren unter anderem neben Deutsch auf dem Hebräischen, Jiddischem und Romani, also dem Rotwelsch, auch aus französischen und niederländischen Vokabeln. Ein bestimmter Rotwelsch-Dialekt bzw. eine Personengruppe wird als Jenisch bezeichnet, das als Begriff erstmals in Aufzeichnungen in Wien 1714 verbürgt ist.
Das Manische auf T-Shirts
Wie Kurator Alves berichtete, hat sich in Gießen die Einstellung zum Manischen mittlerweile doch gewandelt. Einige Ausdrücke findet man auf T-Shirts, Kappen oder Graffiti. Und neben dem 46ers-Erstligisten gibt es noch ein weiteres Basketball-Bundesligateam in Gießen (in der Pro B), die sich „Rackelos“ nennen, was Kinder, Jugendliche oder Brüder bedeutet.
Dank an die vielen engagierten Helfer
Bei der Eröffnung wurde den vielen engagierten Helfern und Untersützern gedankt, die zum Gelingen der Ausstellung beitragen. Dazu gehören unter anderem:
Dr. Hans-Günter Lerch, Erwin Pitz, Dirk Scheele, Stefanie Paul, Projektgruppe Margaretenhütte e.V., Annke Rinn, Gemeinwesenarbeit Gießen-West, Alexander Lang, Gemeinwesenarbeit Eulenkopf, Stadtarchiv Gießen, Peter Matzke, Adelheid Müller, Alisa Kallasch, Bewohnerinnen und Bewohner der Margaretenhütte, der Gummiinsel und vom Eulenkopf.
Zum Vormerken: Am Mittwoch, 23. Februar 2022 (19 Uhr) hält Kurator Alves unter dem Titel „Was pucke die do in Geisse – Eine kleine Kulturgeschichte einer großen Sondersprache“ einen Vortrag. Anmeldungen online, unter museum@giessen.de, telefonisch unter 0641 9609730 oder im Oberhessischen Museum.
Die Öffnungszeiten: Di – So 10 bis 16 Uhr, lange Donnerstage (bis 19 Uhr) am 10. 2., 3. 3., 17. 3., 7. 4. und am 28. 4. Für den Besuch in dem Museum gilt die 2Gplus-Regel.
Titelbild: In der Ausstellung kann man sich anhand von Fotos und Infotafeln sowie durch Hör- und Filmdokumentationen informieren.