Gedenktag 27. Januar

Wie an die NS-Opfer erinnern?

von Ursula Wöll

Auschwitz liegt in Südpolen, 60 Kilometer westlich von Krakau (Kraków). Am 1. September 1939 hatte die Hitler-Wehrmacht Polen überfallen und besetzt. In Auschwitz, im nahen Birkenau und in Monowitz neben der Chemiefabrik IG-Farben entstanden Konzentrationslager, die zu Vernichtungslagern wurden. Das Morden von Menschen erreichte eine fabrikmäßige Perfektion, allein hier starben etwa 1,1 Millionen in den Gaskammern durch Zyklon B. Befreit wurden die Lager am 27. Januar 1945 durch die nach Westen vorrückenden russischen Soldaten. Diesen Tag bestimmte der Bundestag 1996 zum jährlichen „Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus“. Die Generalversammlung der UN erweiterte den 27. Januar zum Internationalen Gedenktag. Und die Unesco erklärte Auschwitz zum Welterbe, damit es als Ort der Mahnung erhalten bleibt.

Erinnerung für die Zukunft

Am 27. Januar 1945, also vor 75 Jahren, war ich schon geboren, in eine blutige Welt des Krieges, der Zerstörung und der Mordwut. Die Gräuel von Auschwitz sind also jüngeren Datums, sind nicht im Mittelalter oder durch irgendwelche Menschenfresser geschehen. Etwas für unmöglich Gehaltenes kam in die Welt. Ein Zivilisationsbruch, der nie wieder geschehen darf, hier und anderswo auf dem Globus. „Die Erinnerung darf deshalb nicht enden, sie muss auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen“, betonte der damalige Bundespräsident Roman Herzog am 3. 1. 1996 in seiner Rede vor dem Bundestag, bevor die Abgeordneten den 27. Januar als „Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus“ beschlossen. Ich sträube mich vor dieser Erinnerung. Sie bedeutet, mir die unsäglichen Leiden und Ängste vorzustellen. Unerträglich, selbst wenn es sattgegessen im warmen Zimmer nur ansatzweise gelingt. Ja, ich verstehe, wenn manche abwinken: ‚Schon wieder, ich will‘s nicht mehr hören‘. Das ist auch eine Schutzreaktion. So frage ich mich, wie unser Erinnern aussehen kann, damit wir sensibler werden für die Leiden anderer und menschlicher gegenüber den Schwachen. Warum konnte es damals überhaupt so weit kommen? Die SS-Leute besaßen doch auch Gefühle, die sie etwa ihren Hunden gegenüber zeigten. Auf was müssen wir achten, um Ausgrenzung und Diskriminierung anderer zu vermeiden? Denn nur dann, wenn ich jemand verachte, werde ich fähig, ihm oder ihr Böses anzutun. Das Böse, das die Befreiung von Auschwitz zutage brachte, ist unvorstellbar.

Die furchtbaren Fakten

Als am 27. Januar 1945 Soldaten der Roten Armee das Vernichtungslager Auschwitz befreiten, fanden sie noch etwa 7000 Häftlinge abgemagert und krank in den eiskalten Baracken vor. Außerdem 843000 Herrenanzüge, 837000 Damenmäntel und -kleider, einen Berg von 44000 Paar Schuhen, tausende Brillen und 7,7 Tonnen menschliches Haar. Die BesitzerInnen waren in den Krematorien verbrannt worden. Nur einen Tag zuvor, am 26. Januar, hatte die SS diese Krematorien gesprengt, um ihre Taten zu vertuschen. Schon als die russische Armee die Weichsel überquerte, wurde etwa die Hälfte der 140000 Auschwitz-Häftlinge mit Viehwaggons in westlicher gelegene KZs evakuiert. Mehr Transportkapazität gab es nicht. Am 21. Januar dann trieb die SS die restlichen, noch lauffähigen 60000 Häftlinge zu Fuß auf der vereisten Straße nach Westen. Oft nur in Holzschuhen, die Füße mit Zeitungspapier umwickelt und die Körper abgemagert, kamen viele nicht weit. Sie wurden erschossen, so dass die Straße mit Leichen gesäumt war. So kam es, dass die Befreier am 27. Januar „nur“ noch etwa 7000 gehunfähige Häftlinge fanden, von denen bald Hunderte trotz ärztlicher Versorgung starben.

Wie an die Gräuel erinnern?
Mahnmal in der Gedenkstätte für das KZ Hadamar (Foto: Volker Thies (Asdrubal) – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, httpscommons.wikimedia.orgwindex.phpcurid=5308983)

Es gab in der Nazi-Zeit viele Konzentrationslager, in denen durch Zwangsarbeit oder in Gaskammern gemordet wurde Die Opfer waren vor allem Jüdinnen und Juden und die als ‚Zigeuner‘ bezeichneten Sinti und Roma und politisch Andersdenkende und Behinderte und Homosexuelle. Alles Minderheiten, die man in den Augen der übrigen Bevölkerung abwerten und ausgrenzen konnte. Nur weil sie sich durch ein Detail im Aussehen, Denken oder Verhalten unterschieden, das nicht als Bereicherung erfahren, sondern als Makel interpretiert wurde. Die staatliche Propaganda gab der Mehrheit das Gefühl, auf die Seite der Starken zu gehören. Und wer auf die vermeintlich unter ihm Stehenden trat, fühlte sich besonders intensiv zur Mehrheit gehörig und dem Führer gefällig. Vor diesem unbewussten Mechanismus ist keine/r gefeit. Auch heute ist ‚Radfahren‘ – nach oben buckeln und nach unten treten – einfacher. Das Konkurrenzprinzip ist allgegenwärtig. Es verlangt, die anderen zu überholen, sich wertvoller als die Verlierer zu fühlen. Diese Hierarchie müssen wir als konstruiert durchschauen, damit Solidarität entsteht. Wer erkennt, dass alle Menschen seelischen und körperlichen Schmerz empfinden, so wie man selbst, ist auf dem richtigen Weg. Er wird gerade den Schwachen beistehen, auch wenn das nicht honoriert wird. Das heißt nicht, dass man nicht mehr kritisieren soll. Es gilt, eine Streitkultur einzuüben, die das Gegenüber als Menschen achtet, auch wenn die eigene Meinung konträr ist. Die Gedenkstätte in Hadamar, wo in der Nazizeit über 10000 Menschen mit einem geistigen oder körperlichen Handicap ermordet wurden, setzte einen Gedenkstein mit der Bitte „Mensch achte den Menschen“. Leichter gedacht wie gemacht. Warum gibt es eigentlich kein Schulfach, in dem humanes Verhalten durch Rollenspiele und Gespräche eingeübt wird?

(Titelbild: Eingangstor des KZ Auschwitz, vVon Dnalor 01 – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0 at, httpscommons.wikimedia.orgwindex.phpcurid=26547566)

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