Nach vier Monaten zurück in die Schule
Von Klaus Nissen
Fast eine Viertelmillion Jungen und Mädchen sind seit Mitte Dezember 2020 nicht mehr in ihrer Schule gewesen – ein Drittel aller Schülerinnen und Schüler. Das rechnete der SPD-Bildungspolitiker Christoph Degen in einer Landtagsdebatte dem hessischen Kultusminister Alexander Lorz (CDU) vor. Die Entwicklung dieser Kinder und Jugendlichen sei dadurch sehr gefährdet, so Degen. Ihnen fehlten ein Tagesrhythmus und ihre Freunde. Schlimmer noch: Die Zahl der Schulabbrecher werde sich verdoppeln, warnt Lorenz Bahr von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter. Das wären spätestens 2022 bundesweit 108 000 junge Menschen, die keine berufliche und schulische Perspektive mehr haben.Wechselunterricht – und nachmittags Mathe
Die Wetterauer Schulamtsleiterin Rosemarie zur Heiden drückt nicht auf diesen Alarmknopf. Sie sagt auf Anfrage: „Mir liegen keine Hinweise vor, dass so viele Schüler die Schule abbrechen werden.“ Es sei jetzt auch nicht erfassbar, ob Jugendliche bereits vorzeitig die Schulen verlassen haben. „Warum auch sollten Eltern ihre Kinder jetzt von der Schule abmelden?“, meint die Dienstherrin über 88 Wetterauer Schulen.
Ähnlich sieht es Jutta Messerschmidt. Die Fachdienstleiterin im Wetterauer Jugendamt meint, es sie viel zu früh, um nachzurechnen, wie viele Jugendliche wegen Corona die Schule abbrechen. Der Kreis bemühe sich zudem sehr, so etwas zu vermeiden. Bewusst habe man schon seit der ersten Infektionswelle darauf verzichtet, die Schulsozialarbeit und andere sozialpädagogische Hilfen herunterzufahren.
„Myway“ kümmert sich um schulmüde Jugendliche
Und dann gibt es noch das Projekt „My Way“. Seit 2018 kümmern sich im staatlichen Auftrag pädagogische Fachkräfte von „Pro Inclusio“, einer Tochterfimra des Bildungswerkes der Hessischen Wirtschaft, um bis zu acht schulmüde Jungen und Mädchen aus den Klassen acht bis zehn. An drei Tagen der Woche können sie in einer Werkstatt praktische Dinge lernen, an zwei Tagen gibt es intensiven Unterricht in Deutsch, Mathematik und Englisch. Es ist ein Angebot ohne psychischen Druck, sagt die Wetterauer Sozialdezernentin Stephanie Becker-Bösch (SPD) – „damit die Jugendlichen nicht das Gefühl bekommen, dass man sie benotet.“
Die Jugendlichen lassen sich motivieren, sagt die koordinierende Lehrerin Claudia Dornseifer. Für etwa ein Jahr kommen Jugendliche ins Projekt, nachdem sie in ihren Schulen häufig ganz oder in den Randstunden beim Unterricht fehlten. „Wenn bei uns so etwas passiert, können wir sofort reagieren. Und die Anwesenheit erhöht sich deutlich.“
Allerdings gibt es eine Warteliste, und mehr als acht Plätze kann das Modellprojekt nicht bieten. Der Unterricht findet zudem in Friedberg statt, das für schulmüde Jugendliche beispielsweise aus Gedern unerreichbar ist. Bislang gibt es keine Anzeichen, dass das Modellprojekt für die ganze Wetterau mit mehr Plätzen und zusätzlichen Lernorten ausgestattet wird. Auch die Evaluierung, eine Zwischenbilanz über den pädagogischen Erfolg, wurde bisher nicht veröffentlicht.
In den Schulen selber sind momentan ganz andere Dinge wichtig. Seit dem 7. Mai ändert sich vor allem für die Kids der Jahrgangsstufen 7 bis 11 der Alltag. Im Gegensatz zu den Abschlussklassen im Hauptschul, Real- und Gymnasialzweig sind sie in Hessen seit Jahresbeginn ausgesperrt, sitzen daheim beim Distanzunterricht. Ab dem kommenden Freitag gilt für sie der Wechselunterricht: Die Hälfte der Klasse lernt von daheim, die andere kehrt in die Schule zurück. Das müsse nun organisiert werden, sagt der Gederner Gesamtschul-Leiter Thomas Dauth. Dafür brauche er mehr Unterrichtspersonal als bisher. Denn für eine Klasse müssten ja gleichzeitig der Distanzunterricht und das Lernen in der Schule stattfinden.
Erst Ende 2022 erreicht das Internet alle Klassenräume
Der Fernunterricht läuft Dauth zufolge inzwischen recht routiniert ab. Die dafür zuständigen Lehrkräfte machen die Videokonferenzen in der Regel von ihren Wohnungen aus, weil die besser mit Datenleitungen ausgestattet seien als die Schule selbst. Die werde erst Ende 2022 in jedem Klassenraum einen Internetzugang haben. Die daheim sitzenden Jungen und Mädchen haben laut Dauth kaum eine Chance, aus dem Distanzunterricht abzutauchen. Denn wenn sie das tun, „setzen sich meine Sozialarbeiter ins Auto und klingeln bei denen an der Tür.“
Die Unterrichtsausfälle während der Pandemie haben in der Bildung der jungen Leute trotz aller Bemühungen sicher Lücken hinterlassen, glaubt der Gesamtschuldirektor. Das werde man im nächsten Jahr wohl recht deutlich sehen können. Schon jetzt müsse man gegensteuern. Deshalb soll es künftig nachmittags nicht mehr Sport oder Näh-Unterricht geben, sondern bis zu 90 Wochenstunden zusätzlich Deutsch, Englisch und Mathematik. „Wir werden da für jeden Jahrgang Angebote machen“, sagt Thomas Dauth. Es liege an den Schülerinnen und Schülern und ihren Eltern, ob sie den zusätzlichen Nachmittagsunterricht annehmen. An Geld und Lehrerstunden werde es dafür nicht mangeln. Vor dem Landtag versprach Kultusminister Lorz, er werde einen „erheblichen“ Betrag für Förderkurse, Lernbegleitungen und Hausaufgabenhilfen bereitstellen.