Eine Krankenschwester berichtet
von Jörg-Peter Schmidt
Die Krankenschwester Vera Bonica aus Gießen war im Sommer 2019 auf dem Rettungsschiff „Alan Kurdi“ im Einsatz. Nun berichtet sie, was sie bei der Fahrt auf dem Mittelmeer erlebt hat.
Rettung aus Seenot
Laut einer Statistik der Organisation “Seebrücke Gießen“ starben 2018 etwa 2100 Menschen auf dem Mittelmeer – von gewissenlosen Schleppern in völlig unsicheren Schiffen oder Schlauchbooten gegen oft hohe Bezahlung aufs Meer geschickt. Sicher hätte es weniger Tote gegeben, wenn sich nicht seit Jahren politisch Verantwortliche die Verantwortung hin- und herschieben würden, sagte sich die Gießener Krankenschwester Vera Bonica. Ihre Enttäuschung und Wut war schließlich so gewachsen, dass sie im Sommer 2019 einen Entschluss in die Tat umsetzte, der in den Monaten davor in ihr gewachsen war: Erstmals auf einem der Schiffe anheuern, die sich bemühen, Flüchtlinge auf dem Meer zu retten.
Nachdem sie alle behördlichen Voraussetzungen erledigt hatte und ihre Freunde die hohen Selbstkosten spendeten, stieg Vera Bonica ins Flugzeug nach Palma de Mallorca, wo im Hafen das Schiff „Alan Kurdi“ zum Auslaufen bereit stand. Wie es weiterging, schilderte sie im Vortragsraum des Begegnungszentrums „Walltorstraße 3“ in Gießen vor etwa 70 Zuhörerinnen und Zuhörern.
„Ich habe sofort gemerkt, dass das Team um unseren Kapitän Andrey froh war, dass ich als erfahrene Krankenschwester mit der portugiesischen Ärztin Ana (27 Jahre alt) das Medical Team gebildet habe“, sagte die Referentin. An Bord ging es für sie erst mal darum, das in den fünfziger Jahren in der DDR gebaute Schiff kennenzulernen, das nach einem tot an den Strand der türkischen Mittelmeerküste gespülten zweijährigen syrischen Jungen benannt wurde: Das Foto von dem ertrunkenen Alan Kurdi ging um die Welt. Das Schiff, das im Auftrag der deutschen Hilfsorganisation „Sea-Eye“ vor der libyschen Küste unterwegs war, hat fünf Stockwerke, in dem auch ein Hospital untergebracht ist. Einsatzleiterin für diese Mission war die Ärztin Barbara Held aus Hamburg. Für Einsätze stehen unter anderem Schnellboote, Rettungswesten sowie Rettungsinseln zur Verfügung. „Es dauerte nicht lange, bis Rettungsbote und Schwimmwesten in der Praxis gebraucht wurden“, berichtete Vera Bonica. Sie und ihre Kollegin hatten in der Frühe zur ersten Wache das Schlauchboot entdeckt und die Brücke informiert. Es wurde die Glocke geläutet, das entspechende Alarmsignal ertönte. Das bedeutete: Es gilt jetzt schnell zu handeln.
Auf dem Mittelmeer vor Libyen schaukelte ein Schlauchboot mit etwa 40 Menschen an Bord. „Ich wurde jetzt zum ersten Mal in meinem Leben damit konfrontiert, in welchem katastrophalen Zustand die Menschen waren, die wir an Bord holten“, berichtete die Krankenpflegerin. Unter den Flüchtlingen, die beispielsweise aus Kamerun, der Elfenbeinküste, dem Kongo, Mali und aus Ghana stammen, waren auch eine im bald im achten Monat schwangere Frau und einige Kleinkinder, von denen eines 40 Grad Fieber hatte. Es hätte auf dem Gummiboot ohne Wasser nicht mehr lange überlebt. Es galt vor allem, das Fieber des Kindes zu senken und die völlig erschöpfte Schwangere zu retten, was nach und nach langsam gelang. Zusätzlich mussten zwei frische Schussverletzungen, die sich schon infiziert hatten, versorgt werden. „Von einigen der Traumatisierten erfuhren wir, was sie erlebt hatten“, fuhr die Gießenerin fort. Sie seien von mit Maschinengewehren bewaffneten Milizen in der Nähe von Tripolis in das Schlauchboot getrieben worden, hieß es. Berichtet wurde ihr von dem Anblick der bei Massenerschießungen Umgekommenen. „Der kleine fiebernde Junge und seine Mutter zeigten uns ihre vernarbten Schusswunden.“ Die Unterhaltung erfolgte meistens in englischer oder französischer Sprache. In den nächsten Tagen erholten sich die Geretteten nach und nach.
Trinkwasser und Nahrung wurden knapp
Aber welches Land würde das Schiff an Land lassen? Lampedusa wurde angefahren – vergeblich. Wohin jetzt? Das nächste Ziel war Malta. Inzwischen wurden das Trinkwasser und auch die Nahrung knapp. Jetzt hieß es erst mal, Tage warten. Wieder vergeblich? Dann die erlösende Nachricht: Die Migrantinnen und Migranten dürfen an Land. Aufatmen, Tränen der Erleichterung, Freude. Hintergrund des Geschehens: Die Bundesregierung hatte sich mit der Regierung in Malta in Verbindung gesetzt. Vera Bonica fiel der Abschied nicht leicht, da neue Freundschaften geschlossen worden waren. Wohin wird die Flüchtlinge der Weg führen? Laut der entsprechenden Regelung zwischen der Bundesregierung und der EU werden sie von mehreren Ländern aufgenommen und dort ihre Asylanträge geprüft.
Vera Bonica ist froh, einen Teil dazu beigetragen zu haben, dass Menschen großer Seenot entkommen sind. „Ich werde wieder auf ein solches Rettungsschiff gehen“, kündigte sie unter großem Applaus des Publikums an, zu dem auch Gießens Oberbürgermeisterin (OB) Dietlind Grabe-Bolz (SPD) gehörte. Gleich mehrere Mitglieder der „Seebrücke“ sprachen die OB nach dem Vortrag auf den „Seebrücke“-Antrag mit dem Wunsch an, dass Gießen sich symbolisch als sicherer Hafen für aus Seenot gerettete Flüchtlinge bezeichnet wird. Hierfür gibt es einen entsprechenden Parlamentsinitiative der SPD, berichtete Grabe-Bolz.