Erinnerungskultur in Ortenberg
Von Corinna Willführ
Häufig nachgefragt, jetzt wieder erhältlich: Der Kulturkreis Altes Rathaus Ortenberg (KARO) hat in seiner Reihe „Ortenberger kleine historische Schriften“ den Band „Geschichte der jüdischen Gemeinde von Ortenberg in Hessen“ neu aufgelegt.Juden spielten in Ortenberg eine große Rolle
Verfasst haben die Publikation Manfred Meuser, Jahrgang 1941, langjähriger Schulleiter und Mitinitiator des Mahnmals für die ermordeten Juden von Ortenberg, und Michael Schroeder, Jahrgang 1954, Altertumswissenschaftler, Autor und Stadtarchivar der Wetteraukommune.
„Hunderte von Jahren haben Juden in der Stadt eine große Rolle gespielt“, leitete Martin Schindel, zweiter Vorsitzender von KARO, kürzlich die Vorstellung der Neuauflage von Heft 4 der kleinen historischen Schriften ein. In das Jahr 1656 reicht das älteste Dokument – bewahrt im Stadtarchiv – zurück. „Kopfständig als äußerer Einband um das ‚Schatzregister der Stadt Ortenbergck de Anno 1656‘ (StAOrt X 2,8) findet sich ein pergamentenes Doppelblatt zu vier beschriebenen Seiten mit dem Morgengebet (Shaharit) zu Jom Kippur.“ Erste urkundliche Erwähnungen jüdischer Ortsbewohner gehen bis ins 14. Jahrhundert zurück.
1936 war Ortenberg „judenfrei“
Die Mitglieder der Israelitischen Gemeinde besuchten die örtliche Synagoge, feierten ihre Festtage wie Jom Kippur oder Purim, hielten die Gebote an Schabbes ein, bestatten ihre Toten auf einem eigenen Friedhof. Mit ihren christlichen Altersgenossen badeten Kinder und Jugendliche in der Nidder. In den 1830er Jahren brachte der Synagogenchor regelmäßig den Schlossbesitzern ein Ständchen dar. Unter den 74 Ortenberger Juden waren 1932 Textilhändler und Schneider, Pferdehändler, ein Metzger und ein Elektroinstallateur. Ein Jahrhundert zuvor zählte die Gemeinde noch 82 Mitglieder. Am 28. Juni 1936 verkündet der „Nidda-Anzeiger“: Ortenberg ist judenfrei“. Und am 6. August 1936 heißt es aus der Bürgermeisterei: „Die früher bestandene Israelitische Religionsgemeinschaft Ortenberg ist infolge Wegzugs fast aller jüdischen Familien bereits vor längerer Zeit aufgelöst worden.“
Johanna Horowitz, geborene Oppenheimer (geb. 1886), starb 1942 im Ghetto Izbica, Siegmund Löwenstein (geb. 1876), starb 1943 in Theresienstadt, Sophie Oppenheimer, geborene Strauss (1897), 1942 in Auschwitz: Nur drei der Namen auf der Gedenktafel „an die während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ermordeten jüdischen Bürgerinnen und Bürger.“ Die Tafel befindet sich seit 2008 in der Ortenberger Altstadt. „Stolpersteine“ an den Häusern, in denen sie lebten, gibt es bislang in der Kernstadt nicht. Ein Versäumnis. „Dazu war die Stadt bisher noch nicht in der Lage“, bedauern Meuser und Schindel. „Unser Wunsch ist es, dass dies bald nachgeholt wird.“ Im Stadtteil Bleichenbach wurden 2017 neun „Stolpersteine“ verlegt – alle für die getöteten Mitglieder der Familie Leopold. Hoffnung hegen die Autoren auch, dass nach einem Eigentümerwechsel an dem Wohnhaus in der Wilhelm-Leuschner Straße, an dem sich die letzte Synagoge der Stadt befand, an diese mit einer Gedenktafel erinnert wird. Der bisherige Besitzer des Gebäudes hatte dies verweigert.
Für Manfred Meuser ist die Pflege der Erinnerungskultur an die jüdische Gemeinde seit Jahrzehnten eine Herzensangelegenheit. „Meine Mutter war als Weißnäherin bei einer jüdischen Familie in Diensten. Die Familie musste vor der Verfolgung durch das NS-Regime emigrieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sie uns noch bis in die 50er Jahre mit Lebensmitteln versorgt.“
Ein Zeitdokument, das eindrücklich das Leben der Ortenberger Juden bis In die frühen 1930er Jahre beschreibt, ist die Tonbandaufzeichnung der Erinnerungen von Lilli Cirillo. Das dreieinhalbstündige Interview gehört zum Bestand des United States Holocaust Memorial Museum. Zu finden ist es auch auf Youtube-USC Shoah Foundation (Lilli Cirillo).
Das Heft 4 der Ortenberger kleinen historischen Schriften ist in Ortenberg bei MaKiLoPo (Post) in der Lauterbacher Straße sowie bei den Veranstaltungen des Kulturkreises Altes Rathaus erhältlich. 32 Seiten, mit zahlreichen Fotografien und Abbildungen. Es kostet acht Euro und ist bei MaKiLoPo (Post) in der Wilhelm-Leuschner-Straße und im KARO-Keller zu den Veranstaltungen erhältlich.
Titelbild: Manfred Meuser (Autor; links)) und Martin Schindel (Zweiter Vorsitzender von KARO) stellten die Neuauflage vor.