Eine Kindheit im Holocaust
Manchmal wird Helmut „Sonny“ Sonneberg gefragt, ob er vergessen und verzeihen kann. „Beides ist möglich. Aber die Narben bleiben immer“, sagte der 90-Jährige. Ort war die Gedenkveranstaltung neulich in Bad Nauheim zur Reichspogromnacht, die am 9. November 1938 eine neue Dimension der Judenverfolgung hervorbrachte.
Judenverfolgung: Die Tränen der Mutter
Am 9. November vor 83 Jahren brannten die Synagogen in Deutschland, auch in Frankfurt war es so. Helmut Sonneberg erinnert sich noch an das Feuer und an die Tränen seiner Mutter. Das erzählte der 90-Jährige in einem berührenden Zeitzeugenbericht in der Trinkkuranlage, moderiert durch den evangelischen Pfarrer Peter Noß.
Judenverfolgung: Schulkassen hören zu
Trotz all der Schrecken, die er als Kind erleiden musste, ließ der Frankfurter dabei auch eine Menge Humor aufblitzen. Veranstalter waren die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Wetterau (GCJZ), Jüdische Gemeinde Bad Nauheim, evangelische und katholische Kirchengemeinden und die Stadt. Zu den Zuhörerinnen und Zuhörern gehörten unter anderem zwei Schulklassen von Ernst-Ludwig- und Sankt-Lioba-Schule.
Judenverfolgung: Erinnerung ist wichtig
Wie GCJZ-Vorsitzende Britta Weber erklärte, ist Erinnerung weiterhin sehr wichtig, um der Opfer zu gedenken und Lehren aus dem Geschehenen zu ziehen. Bürgermeister Klaus Kreß thematisierte das Erstarken der rechten Szene. Es gelte, mutig Stellung zu beziehen: „Überwinden wir uns, engagieren wir uns. Nicht nur unsere jüdischen Bürger brauchen unseren Schutz.“
Einer der letzten Zeitzeugen
Seine Geschichte konnte Helmut Sonneberg, genannt Sonny, über viele Jahre hinweg nicht erzählen, denn es ging ihm zu nahe. Bei einer Begegnung im Umfeld der Eintracht Frankfurt, deren glühender Fan er ist, ermunterte ihn Buchautor Matthias Thoma, über die Vergangenheit zu reden. Sonneberg gehört zu den letzten Zeitzeugen des Holocaust. Er war knapp 15 Jahre und wog 27 Kilogramm, als die Rote Armee ihn und die anderen Menschen im KZ Theresienstadt befreite.
Geschlagen und getreten
Geboren 1931 in Frankfurt als Kind einer jüdischen Mutter, wusste er jahrelang nicht, dass er Jude war. Denn seine Mama hatte einen Christen geheiratet, war zum Katholizismus konvertiert und ließ auch Helmut taufen. Die Rassegesetze der Nazis stuften ihn nun als Juden ein. Helmut musste die Schule wechseln, kam vorübergehend in ein jüdisches Waisenhaus. Er musste erleben, dass ihn Hitlerjungen auf der Straße schlugen, traten und bespuckten. Solche und andere Erlebnisse sitzen noch tief in ihm.
Wie im Gefängnis gelebt
Beinahe wäre er schon mit dreizehn Jahren deportiert worden, doch sein Vater zeigte all seine Orden und Ehrenzeichen bei der Gestapo vor und sagte: „Meinen Buben nehmt ihr mir nicht weg.“ Zwei Jahre lebte Helmut in der Wohnung wie im Gefängnis, weil es draußen zu gefährlich war. Nach Theresienstadt mussten er und seine Mutter im Februar 1945.
Völlig überfülltes Ghetto
Das Ghetto beschrieb er als völlig überfüllten Ort, mit katastrophalen hygienischen Zuständen und regelmäßigen Transporten in Vernichtungslager. Nach dem Krieg hätte sein Vater am liebsten Deutschland verlassen, doch es scheiterte an den Finanzen.
Vor allem die menschlichen Werte
Einige Zuhörer stellten Fragen. Eine Schülerin wollte wissen, welcher Religion er sich als christlicher Jude zugehörig fühlt. Wie er ausführte, spielen für ihn vor allem die menschlichen Werte eine Rolle, unabhängig von Herkunft und Religion. »Man muss Mensch sein und Mensch bleiben. Es ist doch nichts einfacher, als Respekt zu haben, mal ›Bitte‹ und ›Danke‹ zu sagen und niemandem die Würde zu nehmen.« Die jüdische Religion spielte in seinem Leben eine eher geringe Rolle, wie er schilderte, er sei christlich erzogen.
Augen offenhalten
Er appellierte an die Jugendlichen, ihren Kindern Werte zu vermitteln, wenn sie eines Tages eine Familie gründen. „Man muss niemanden schlagen, treten und anspucken“, betonte er. Mehrfach mahnte er „Uffpasse“ – es gelte, die Augen offenzuhalten, denn die Gesellschaft sei nicht nazifrei.
„Die Jugend muss wachsam sein“
Solange eine Fraktion wie die AfD im Bundestag sitze, könne nur gewarnt werden, dass so etwas nie wieder passiert. „Die Jugend muss wachsam sein“, unterstrich er. Wie es während des Dritten Reichs um die Meinungsfreiheit bestellt war, beschrieb er mit einem Beispiel: „Wenn jemand heute sagen würde: ‚Angela Merkel war manchmal gut, manchmal schlecht‘, wäre man damals abtransportiert worden.“ Das Schlusswort sprach Manfred de Vries (Vorsteher jüdische Gemeinde Bad Nauheim): „»Es kann wiederkommen – dem müssen wir entgegentreten.“
Lektüretipp
Die Geschichte der Familie von Helmut Sonneberg erzählte seine Schwester Lilo Günzler in einem Buch. Sie schrieb „Endlich reden“, erschienen im Verlag Henrich Editionen. Auch Lilo Günzler brauchte lange, um über ihre Erlebnisse reden. Sie sprach zunächst vor Schulklassen und gab schließlich dem Drängen nach, ihre Erinnerungen aufzuschreiben. Dabei arbeitete sie mit Agnes Rümmeleit zusammen. Lilo Günzler: Endlich reden, Henrich Editionen, ISBN 978-3963200564, 11 Euro. ihm