Giessen in den 80ern

Ausstellung zur Zeit des Aufbruchs

Von Jörg-Peter Schmidt

Es war die pulsierende Zeit des Aufbruchs, des Widerstands gegen die Kriegstreiber und gegen die Diskriminierung von homosexuellen Menschen; überall wurden symbolisch die Fenster weit geöffnet, um den Muff verkrusteter Strukturen herauszulassen. Leider war es auch die Zeit des RAF-Terrors und von AIDS. „Feuer und Flamme – Das bewegte Gießen in den 1980er Jahren“: Dies ist Thema einer Ausstellung im Oberhessischen Museum im Alten Schloss in Gießen (Brandplatz). Die am 31. Mai 2020 endende Dokumentation wird mit Sicherheit sehr großes Interesse finden.

Frauenbewegung, Atomkraft, Wohnungsnot

Man kann man sich anhand von Film-Archivaufnahmen, Fotos, Plakaten sowie Informationstafeln und Songs, denen man über Kopfhörer lauscht, in das Jahrzehnt zurückversetzen, in dem die politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der 60er und 70er Jahre auch in der oberhessischen Universitätsstadt fortgesetzt und intensiviert wurden. Die Brennpunkt-Themen waren Frauenbewegung, Paragraph 218 und die Angst vor Gefahren durch die Atomkraft, was sich dann 1986 durch die Nuklearkatastrophe in Tschernobyl bewahrheitete. So manche Probleme, die viele Menschen auf die Straße trieben, sind 2020 noch immer hochaktuell: Dazu gehört die Wohnungsnot. Bekanntlich gab es in Gießen vor gar nicht langer Zeit wieder Hausbesetzungen, um auf zu hohe Mieten und ungenutzten Wohnraum aufmerksam zu machen. Und junge Menschen drücken in Demonstration im Rahmen der Bewegung „Fridays for future“ ihr Sorgen wegen der Klimaprobleme aus.

Kuratorin Dr. Julia  Schopferer vor der Plakatwand, die Wohnungsnot thematisiert. (Fotos: Jörg-Peter Schmidt)

Kürzlich war für die Presse Gelegenheit, sich die ab 12. März 2020 (19 Uhr) öffentlich zugänglichen Zeitdokumente anzuschauen. Für Erläuterungen standen zur Verfügung: Museumsleiterin Dr. Katharina Weick-Joch, Oberbürgermeisterin Dietlind Grabe-Bolz und sowie Dr. Julia  Schopferer, die wie Linn Mertgen Kuratorin  ist. Sie dankten allen, die dazu beitrugen, dass diese Ausstellung realisiert werden konnte. Dies war durch Zeitzeugen möglich. Friederike Stibane, die bei der  Stadt Gießen Beauftragte für Frauen und Gleichberechtigungsfragen ist, hat historischen Plakate zur Verfügung gestellt.

Mehrere Initiativen setzten sich in den achtziger Jahren für ein besseres Radwegenetz ein.

Bei einem Rundgang sieht man Plakate und Fotos, die die Hausbesetzungen in Gießen thematisieren. Sie begannen 1971, als sich die Wohnungsnot verschärfte, obwohl viele Gebäude ungenutzt waren. Dies führte in den 80er Jahren unter  anderem in der Alicenstraße 18 und Südanlage 20 zu Besetzungen. Interessant war, dass diese Aktionen auch bei vielen älteren Menschen auf Sympathie stießen, die sich wohl an die Wohnungsnot des Zweiten Weltkrieges und in den Jahren danach erinnerten. Groß war allerdings  auch die Zahl der Menschen, die strikte Gegner von Hausbesetzungen waren. Der Protest gegen die Wohnungsnot und horrende Mieten führte dazu, dass sich politisch Regierende unter Druck sahen zu reagieren und Initiativen für den sozialen Wohnungsbau auf den Weg zu bringen (auch in Gießen). Und heute? Im Jahr 2020 gibt es weiterhin knappen Wohnraum und unverschämt teure Mieten.  

Kampf gegen Ungerechtigkeit

Historische Plakate aus den achtziger Jahren und auch neunziger Jahren beschäftigen sich mit dem Golfkrieg.

In der Ausstellung wird auch an ein Geschehen in Gießen erinnert, das im März 1981 für überregional großes Aufsehen sorgte. Bei Bauarbeiten der Firma Sommerlad wurde durch einen Bagger „versehentlich“ ein anliegendes Haus so stark beschädigt, dass alle Bewohnerinnen und Bewohner dort nicht mehr leben konnten. Der Ärger hierüber führte zu Protesten, bei dem es auch Sachbeschädigungen  gab. In weiteren Räumen im ersten Stock des Museums wird an die Frauenbewegung erinnert, die bereits in den sechziger Jahren begann. In der Pressevorlage der Stadt Gießen  zur Ausstellung heißt es hierzu: „Immer mehr Frauen besuchten die Universität und mussten feststellen, dass frauenspezifische Themen dort kaum berücksichtigt wurden.“ Gegen diese Ungerechtigkeit  kämpften zahlreiche Initiativen  an. In den sechziger, siebziger und achtziger Jahren wuchs nach und nach die Zahl der Gruppen, die sich für die Gleichberechtigung und gegen den Paragraphen 218 im Rahmen der Abtreibungsdebatte einsetzten. Auch im Jahr 2020 ist  die Gleichberechtigung  vielerorts noch nicht verwirklicht.

Thematisiert wird im Alten Schloss auch das Engagement für homosexuelle Frauen und Männer. Für Diskrimierung sorgte Paragraph 175, der Sex unter Männern untersagte.  Auch lesbische Frauen kämpften gegen ihr Unterdrückung. Zwar sind in den vergangenen Jahren in Deutschland und anderen Nationen die gleichgeschlechtliche Ehe und die Etablierung des dritten Geschlecht erreicht, aber an vielen Orten auf der Welt werden homosexuelle Menschen noch immer verfolgt. Schließlich geht die Dokumentation geht auch auf das Thema AIDS ein. In einem anderen Raum der Ausstellung geht es um die Anti-Atomkraft-Bewegung, die auch in Gießen stark war. In den Zeiten des Kalten Krieges war die Angst vor einem Dritten  Weltkrieg   überall zu spüren. Hinzu kam der Widerstand gegen Atomkraftwerke. 1986 wurde dann, wie eingangs erwähnt, durch die Tschernobyl-Katastrophe der Albtraum Realität. Auch heute noch ist die Angst vor einem Atomkrieg groß.

In einem Raum im Alten Schloss wird an die Initiativen in Gießen und dem Umland erinnert, die sich für den Ausbau der Radwege, für eine umweltfreundlichere Strapenverkehrspolitik einsetzten . Obwohl viele der damaligen Forderungen erfüllt sind, ist die Diskussion auch in Gießen und Umgebung noch lange nicht abgeschlossen.Bleibt noch zu erwähnen, dass es in den achtziger Jahren  nicht nur das Problem des RAF-Terrors gab, sondern verschiedene Formen von Rechtsextremismus – ein Thema, das heute aktueller den je ist. Überhaupt sind vielfältige Probleme der damaligen Zeit leider geblieben, wie die  Besucherinnen und Besucher der Dokumentation feststellen werden. 

Geöffnet ist die Ausstellung bis zum 31. Mai jeweils dienstags bis sonntags von 10 bis 16 Uhr.   Sie ist auch am Ostermontag, dem 13. April für die Öffentlichkeit zugänglich und an den „Langen Donnerstagen“ am 16. April, 23. April und 14. Mai 2020 des Museums bis 19 Uhr. Die Besucher erhalten kostenlos eine Ausstellungszeitung.
museum.giessen.de

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