Texte aus dem Corona-Alltag
Von Bruno Rieb
Die öden Pandemietage lockert der Sozialwissenschaftler und Publizist Götz Eisenberg mit seiner „Durchhalteprosa“ auf. In der Kolumne beschreibt er seinen Coronaalltag. Es sind feinsinnige Beobachtungen mit Lehrwert.„Ich habe mich beinahe das komplette Corona-Jahr über an der Lahn aufgehalten. Die Lahn war mein Fluchtpunkt und meine Rettung“, schreibt der in Gießen lebende Autor am 28.September 2020 unter der Überschrift „Anomie Germoney“. Das Wasser des Flusses ist kühl geworden. Er schwimmt nur ein paar Züge und steigt wieder raus, sitzt am Ufer in der schon tief stehenden Sonne und schaut sich um. „Die älteren Menschen, die jetzt noch unterwegs sind, führen keine Bluetooth-Boxen mit sich und genießen die Stille am Fluss“, schreibt er und man spürt, wie er die Stille mit genießt.
Predigt in der digitalen Wüste
Die digitale Welt ist nicht seine. Am 7. November 2020 beschreibt er eine Gruppe Studienanfänger, die von einer älteren Studentin, die als Mentorin fungiert, durch den Seltersweg geführt werden. Sie erklärt ihnen die Bronzeskulpkur „Schwätzer“. Neun der zehn jungen Leute sind aber mit ihren Smartphones beschäftigt und machen Selfies. Eisenberg fragt sich, warum die Mentorin sich das gefallen lässt und die Veranstaltung nicht abbricht. „So stand sie wie eine Predigerin in der digitalen Wüste – auf verlorenem Posten“, beklagt Eisenberg und vermutet, dass die Lehrenden „angesichts der Omnipräsenz dieser Geräte kapituliert und sich damit abgefunden haben“.
Als Fan der Band „The Who“, die Ende der 1960er Jahre ihre größten Erfolge hatten, bekennt er sich am 30. November 2020. Er erzählt, dass er die Beat-Gruppe nach ihrer Wiedervereinigung 1997 in der Frankfurter Festhalle gesehen hat. „The Who gehört zur musikalischen Grundausstattung meines Lebens, Substitute, Pinball Wizard, Summertime Blues und You Better You Bet sind Stücke, die ich in mir trage“, schreibt er. Fehlt „My Generation“. Von seiner Generation erzählt Eisenberg, Jahrgang 1951, am 2. April 2021. Er sitzt mal wieder an der Lahn, hat sich Nasenrücken und Ohrläppchen eingecremt, weil er dort leicht Sonnenbrand bekommt. „Ein Hippie-Pärchen ging vorüber und grüßte freundlich. Unsere Generation erkennt sich immer noch an gewissen geheimen Zeichen“, schreibt er. Eingecremten Ohrläppchen?
Titel sind wie Hämorrhoiden
Zur Apotheke in der Nachbarschaft geht Eisenberg in seiner Kolumne am 10. Januar 2021. „Herr Spahn schickt mich“, sagt er, „ich kann und soll mir hier FFP2-Masken abholen.“ „Wir warten auch noch drauf“, antwortet die Apothekerin. Am nächsten Tag bekommt Eisenberg seine Masken. „Es funktioniert also doch“, stellt er fest.
Mit den Corona-Leugnern befasst er sich am 22. Januar 2021: „Die Corona-Leugner treiben eine neue Sau durchs Dorf. Aber es muss natürlich eine akademische Sau sein, mit Titel. Die Respektabilitätsknechtschaft ist bei ihnen genauso ausgeprägt wie beim Rest der Bevölkerung. Erfrischend anarchisch dagegen Oskar Wilde, der sinngemäß sagte: Mit den Titeln ist es wie mit den Hämorrhoiden: irgendwann bekommt sie jedes Arschloch.“
Die ersten Kraniche sieht Eisenberg in seiner Kolumne am 27. Februar 2021. Er wüsste gerne, was sich die Kraniche erzählen: „Keinen Augenblick schweigen sie, ihr trompetenartiges Geschrei begleitet ihren Flug. Vielleicht schreit einer zum Beispiel: ‚Hey du, du könntest auch mal an der Spitze fliegen und Führungsarbeit leisten. Du fliegst jetzt seit Süddeutschland in meinem Windschatten.‘ Oder sie diskutieren, ob sie in den Lahnauen eine Pause einlegen sollen, um nach Nahrung zu suchen.
Eisenbergs „Durchhalteprosa“ macht diese pandemischen Zeiten etwas erträglicher. Eisenberg war 30 Jahre lang Psychologe im Butzbacher Gefängnis, er weiß also, was durchhalten bedeutet. In seiner Kolumne ist er inzwischen bei Folge 26 angekommen. Übrigens hat er drei Bücher über die „Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus“ geschrieben und mit einem Gastbeitrag über den damals geradezu pandemischen Pokémon-Wahnsinn ist er auch im Landboten vertreten.
Seine „Durchhalteprosa“ ist kostenfrei im „GEW-An Magazin“ zu lesen, der Homepage der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Ansbach gew-ansbach.de/tag/goetz-eisenberg/