Der Pokémon-Wahnsinn
„Die Pokémon-Jäger verbindet überhaupt keine Idee, die diesen Namen verdient. Sie sind Kinder des Konsumismus; Lemminge, die sich auf Kommando von der digitalen Klippe stürzen; Hanswurste der Geräte, hinter denen sie herlaufen und in deren Anhängsel sie sich verwandeln“, meint Landbote-Autor Götz Eisenberg. Mit Pokémon-Go würden „die Überflüssigen bei Laune gehalten“.
Kleine Monster entdecken
Vom Balkon aus – meinem ethnologischen Beobachtungsposten in Gießen, von dem aus ich das Treiben der Eingeborenen verfolge – sehe ich, wie ein Pärchen die Goethestraße heraufkommt und vor dem Eingang zum Nachbargrundstück stehenbleibt. Beide halten ihr Smartphone in der Hand. Irgendetwas hat ihre Aufmerksamkeit erregt. Der junge Mann deutet mit dem ausgestreckten Arm auf etwas und wischt hektisch auf dem Touchscreen herum. Die Frau dreht sich einige Male um die eigene Achse und verfällt ebenfalls in hektische Wischbewegungen. Als ich gerade runterrufen und fragen will, ob ich in der Psychiatrie anrufen soll, kapiere ich, worum es hier geht: Die beiden haben irgendein seltenes Pokémon entdeckt, das sich in meiner Nachbarschaft versteckt hält. Irgendwann stößt der junge Mann einen derben Fluch aus und schlägt mir der freien Hand wütend auf einen Pfosten, der das Grundstück zur Straße hin abgrenzt. Die beiden gehen dann weiter. Kurz darauf legt ein Radfahrer eine quietschende Vollbremsung hin. Auch er hält – man ist beinahe geneigt zu sagen: natürlich – sein Smartphone in der Hand. Offenbar hat auch der das kleine Monster entdeckt und versucht, es durch hektische Wischbewegungen auf dem Smartphone zu fangen. Seine Jagd scheint von Erfolg gekrönt, denn er fährt weiter ohne zu fluchen. Am Abend darauf spielen sich ähnliche Szenen unter meinem Balkon ab. Eine Gruppe junger Männer kommt die Straße entlang, jeder mit seinem Smartphone in der Hand. Plötzlich brüllt einer: „Ich hab ihn! Jungs, ich hab ihn gefangen!“ Die anderen eilen herbei und schauen auf das Display des erfolgreichen Jägers. Darauf trinken sie erst mal einen Schluck aus den mitgeführten Bierflaschen.
Pokèmon-Kämpfe schwappen in die reale Welt
Gestern Nacht schien es so, als seien die Kämpfe um die Pokémons in die reale Welt übergeschwappt. Am Rande des Parks und eingangs der Straße, in der ich wohne, kam es zu einer lautstarken Auseinandersetzung zwischen Smartphone-Trägern. Autos hielten, die Fahrer sprangen heraus, es wurde gebrüllt. In Bremen soll es letzten Freitag zu einer Massenschlägerei und Messerstecherei mit mehreren Verletzten gekommen sein, als Pokémon-Jäger aneinandergerieten.
Vorn im Theaterpark, den ich immer noch Johannespark nenne, hat sich eine Pokémon-Arena entwickelt. Ab dem Erreichen eines bestimmten Levels müssen die Spieler eine sogenannte Arena aufsuchen, um weiterzukommen. Dort kämpfen Pokémons verschiedener Spieler gegeneinander und verschiedene Teams um die Hoheit über die Arena, die dann nach der Farbe des siegreichen Teams eingefärbt und markiert wird.
Das hat zur Folge, dass der Park plötzlich von merkwürdigen Figuren bevölkert ist. Sie lagern auf Decken am Boden, sitzen auf Klappstühlen oder gehen in tranceartigen Bewegungen umher. Wo früher Hundebesitzer ihre Tölen zum Abkacken ausführten und Bewohner aus dem Altenheim Runden an ihren Rollatoren drehten, wo manchmal sogar noch lesende Menschen auf Bänken saßen, streifen nun digitale Somnambule umher. Die Displays leuchten in der einsetzenden Dämmerung wie zeitgenössische Glühwürmchen. Am nächsten Morgen ist die Wiese mit Coffee-to-go Bechern und Verpackungen aus einem nahegelegenen Fastfood-Restaurant übersät, das an dem Pokémon-Hype kräftig mitverdient. Die wenigen Mülleimer quellen über. Krähen und andere Tiere verteilen ihren Inhalt in der Umgebung.
Wie Untote aus Zombiefilmen
Am Rande dieses Parks betreibt eine Frau seit ewigen Zeiten einen Blumenladen. Neulich sah ich sie kopfschüttelnd das eigenartige Treiben hinter ihrem Geschäft beobachten. „Können Sie mir erklären, was hier seit einer Woche los ist?“, fragte sie mich. „Was machen die da, was wollen die hier? Was sind das für Leute?“ Sie bewegten sich durch den Park wie Untote aus Zombiefilmen, die sie in ihrer Jugend mal gesehen habe. Wenn sie wenigstens ihren Müttern Blumen mitbrächten, seufzte sie. „Die bringen höchstens virtuelle Blumensträuße mit, die sie an einem Poké-Stop erworben haben. Daran verdienen aber nicht Sie, sondern Google und Apple“, sagte ich.
Ich erzählte ihr, was ich bis dato über den Pokémon-Virus wusste. „Bei uns hieß das früher Völkerball“, setzte ich an. „Bei der digitalen Version muss man mit Bällen auf dem Display irgendwelche kleinen Figuren treffen und dadurch fangen. Fragen Sie mich nicht, wie das technisch funktioniert, dass die dort irgendwelche Monster in den Bäumen sitzen sehen“, sagte ich. Ein paar Tage später erzählte sie mir, sie habe auf der Heimfahrt mit dem Taxifahrer über das Spiel gesprochen. Dieser vertreibe sich in den Pausen zwischen den Fahrten die Zeit damit, Pokémon Go zu spielen, und habe ihr auf seinem Handy vorgeführt, wie es geht. „Aber es bleibt dabei: Das ist nicht meine Welt!“, sagte sie schließlich. Wir fühlten uns beide wie Meister Anton aus Hebbels Stück Maria Magdalena, der am Schluss sinnend stehen bleibt und sagt: „Ich verstehe die Welt nicht mehr!“
Am Samstag durchquerte ich mit meinem alten Freund Michael den Park. Wir hatten uns zufällig an der Lahn getroffen, wo ich schwimmen war und er Äpfel aufgesammelt hatte. Angesichts der rund hundert Pokémon-Spieler, die sich am späten Nachmittag auf der Wiese aufhielten, hatte Michael so etwas wie ein Déjà-vu-Erlebnis: „Mitte der 1960er Jahre sah es hier fast genauso aus. Da lagen hier Hippies und Gammler auf der Wiese herum und kifften. Haschischschwaden zogen durch den Park. Jeder Gießener Bürger und Hundebesitzer, der den Park durchquerte, war im Anschluss high. Dazu kamen dann noch die Amis mit ihren riesigen tragbaren Radios, mit denen der Park mit der dazugehörigen Musik beschallt wurde. Die Kiffer lagerten allerdings auf der Nachbarwiese, die näher zum Theater liegt.“ Einmal sei es zwischen einheimischen und amerikanischen Dealern zu einem handgreiflich ausgetragenen Konflikt gekommen. Wir sprachen eine Weile über die Analogien zwischen einst und jetzt und begriffen: Wie der Schein trügen kann! Die Ansammlungen, zwischen denen rund 50 Jahre liegen und die auf den ersten Blick ähnlich zu sein scheinen, sind in Wahrheit grundverschieden. Die Hippies bildeten eine Einheit, die von einer gemeinsamen Intention oder Idee gestiftet wurde. Man wollte anders leben und sein Leben nicht damit verplempern, es sich durch harte Arbeit zu verdienen. Die Haschischschwaden, die durch den Park waberten, enthielten wie ein Fluidum die Botschaft: Bloß nicht erwachsen werden. „Erwachsen werden heißt Träumen aufgeben“, hatte Jerry Rubin, eine Ikone der amerikanischen Hippie-Bewegung, verkündet.
Hanswurste der Geräte
Die Pokémon-Jäger verbindet überhaupt keine Idee, die diesen Namen verdient. Sie sind Kinder des Konsumismus; Lemminge, die sich auf Kommando von der digitalen Klippe stürzen; Hanswurste der Geräte, hinter denen sie herlaufen und in deren Anhängsel sie sich verwandeln. Mit Pokémon-Go werden die Überflüssigen bei Laune gehalten. Und die Leute zahlen auch noch für ihre eigene Verblödung und Versklavung. Dass sie nur bloß nicht zum Nachdenken kommen! Das Schlimmste am Handywahnsinn scheint mir zu sein, dass die Leute sich um das Schönste bringen, was das städtische Leben zu bieten hat: Das Herumflanieren mit offenen Augen und wachen Sinnen. Früher verließ man das Haus und hing seinen Gedanken nach. Schon diese Formulierung werden die meisten Zeitgenossen nicht mehr verstehen. „He, was? Seinen Gedanken nachhängen, was soll’n das sein?“ Beim oft ziellosen Herumgehen kommen einem die besten Ideen und Einfälle. Kleist ein wenig abwandelnd könnte man von der „allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Gehen“ sprechen. Viele meiner Texte sind beim Herumgehen in meinem Kopf in einer Rohfassung entstanden.
Die Pokémon-Spieler bilden im Unterschied zu den Hippies ein Kollektiv, das seine Einheit von außen und oben (buchstäblich: durch einen Satelliten) empfängt. In Termini Sartres, der in seinem Buch Kritik der dialektischen Vernunft eine Theorie der menschlichen Kollektive entfaltet hat: Die Hippies waren eine „Gruppe“, während die Pokémon-Spieler eine Ansammlung mit einer „serieller Struktur“ bilden. Noch in der Masse bleiben sie isoliert und atomisiert. Sartre erläutert den Begriff der „Serie“ anhand eines Beispiels: Stellen wir uns eine Ansammlung von Leuten vor, die auf einen Bus warten. Obwohl sie ein Kollektiv bilden, bleiben sie isolierte Einzelne, die miteinander nichts zu tun haben, außer dass sie zufällig mit semselben Bus zur Arbeit fahren. Sie nehmen keine Beziehung miteinander auf, außer als Nummer in einer bloß quantitativ bestimmten Serie. Die Mitglieder eine Serie sind austauschbar. Ihre flüchtige Einheit wird durch ein Ding hervorgerufen, in diesem Fall einen Bus. Wir brauchen nur den Bus durch das Smartphone und die auf ihm vorhandenen Apps zu ersetzen und schon erkennen wir: Auch die Gruppenbildung der Pokémon-Spieler ist eine vom Typus der Serie. Man kann sehen, dass jeder einzelne austauschbar, unwesentlich, abgesondert und isoliert ist. Eine Beziehung besteht zwischen den Spielern und ihren Geräten, nicht aber untereinander. Das ist kennzeichnend für einen neuen Vergesellschaftungs-Typ, den man Vernetzung nennen kann. Die Macht, die ehedem darauf fußte, dass sie zerteilte, zerlegte, segregierte, stellt nun auf einer höheren Ebene zwischen den Segregierten und Atomisierten auch wieder Verbindungen her, telekommunikative Vernetzungen, die zugleich der Kontrolle von Herrschaft unterliegen und ihrer Aufrechterhaltung und Verfeinerung dienen.
Entfremdung auf perverse Art aufgehoben
Vernetzung ist eine Erscheinungsform dessen, was Henri Lefèbvre als Entfremdung zweiten Grades beschrieben hat: Die Menschen haben das Bewusstsein ihrer Entfremdung eingebüßt und fühlen sich in ihr heimisch. Damit ist Entfremdung auf eine zynisch-perverse Art und Weise aufgehoben. Statt dass die Subjekte sich die entfremdeten Gestalten ihrer gesellschaftlichen Praxis wieder aneignen, gehen sie selbst in den Formen der Entfremdung auf und erleben die Funktionsimperative des Systems als ihre ureigensten Impulse und intimsten Leidenschaften. Diese Verschmelzung der Menschen mit den Formen ihrer kapitalkonformen Vergesellschaftung stellt das Ende jeder revolutionären Hoffnung dar, die ja immer davon lebte, dass die Menschen nicht ohne Rest in den ihnen aufgezwungenen Rollen aufgehen. Mit dieser Identität von Subjekt und Objekt verliert der Marx‘sche Begriff der Charaktermaske seinen Sinn: Hinter den Masken stecken keine Gesichter mehr! Oder, wenn man lieber will: Die Masken sind ins Fleisch gewachsen.
Am Sonntagabend sah ich, wie ein Auto eines Pizza-Lieferservice vor dem Blumenladen hielt. Der Fahrer stieg aus, schaute durch die Scheibe und klopfte dann gegen die Tür. Ich klärte ihn auf, dass irgendein Pokémon-Jäger den Blumenladen als Adresse genannt haben musste. Er solle sein Glück auf der Wiese hinter dem Geschäft versuchen. Wenig später sah ich einen jungen Mann, der die Pizzen bezahlte und entgegennahm.
Johannespark Opfer des Kommerzes
Vorn an der Ampel stemmte sich ein junger Mann mit Migrationshintergrund auf der Beifahrerseite aus dem Schiebdach eines roten Golfs. Er präsentierte seinen durchtrainierten Oberkörper und brüllte in Richtung zweier Mädchen, die Richtung Pokémon-Arena unterwegs waren: „Hey ihr, wo ist der Bahnhof?“ Eine der beiden zeigte Richtung Elefanten-Klo und sagte: „Geradeaus und dann links.“ „Habt ihr Marihuana?“, schob der Mann aus dem Golf nun die nächste Frage nach. Die Mädchen lachten und riefen: „Nee, da müsst ihr schon zum Bahnhof fahren.“
Vielleicht gibt es doch so etwas wie ein „kollektives Gedächtnis“ einer Stadt, in dem die Erinnerung an die zweite Hälfte der 1960er Jahre aufbewahrt ist und das dafür sorgt, dass noch heute das Gerücht kolportiert wird, man könne im Theaterpark Haschisch erwerben. Das Konzept des „kollektiven Gedächtnisses“ stammt vom französischen Soziologen Maurice Halbwachs, der in der Nachfolge von Emile Durkheim stand. Er wurde in Buchenwald von den Nazis ermordet, ein Umstand der leider nicht Eingang ins kollektive Gedächtnis der Deutschen fand.
Apropos: Wer hat eigentlich den guten-alten Johannespark in Theaterpark umbenannt? Auf alten Stadtplänen kann man sehen, dass dieser Park zwischen Johanneskirche und Theater immer Johannespark hieß. Als irgendein Immobilien-Spekulant vor zehn/zwölf Jahren an der Südanlage zu bauen begann, warb er plötzlich auf riesigen Plakaten mit dem Slogan: Wohnen am Theaterpark. Der Bauherr zielte auf ein Publikum mit viel Geld. Solche Leute verstecken ihre Orientierung am „hündischen Kommerz“ (Friedrich Engels) gern hinter einem Interesse für Kunst und Literatur. Das „Wohnen am Theaterpark“ verschafft solchen Leuten einen „Distinktionsgewinn“, wie Pierre Bourdieu das Bestreben genannt hat, sein an sich leeres Selbst aufzuwerten, indem man sich von jenen abgrenzt, die keinen Zugang zu solchen Dingen haben. Einer der zahlreichen unappetitlichen Züge der Gegenwart besteht darin, dass man reichen Leuten das Recht zugesteht, Parks und anderen öffentlichen Einrichtungen, ja ganzen städtischen Arealen „Namen zu geben“. Als ich an der Fachhochschule Wiesbaden unterrichtete, lag neben dem Seminarraum, in dem ich meine Veranstaltungen abhielt, ein Hörsaal, der „Aldi-Süd-Hörsaal“ hieß.
Liebig-Universität zieht Pokémon-Studenten an
Zurück zum Pokémon-Wahnsinn. Aus soziologischer Vogelperspektive erschließt er sich uns als Teil einer kollektiven Infantilisierungs-Tendenz. Es existiert eine allgemeine Regression zu Wiege, Schnuller und Rassel. Vor ein paar Tagen kam mir ein Mann mit Anzug und Schlips entgegen – auf einem Tretroller. Wo sie gehen und stehen, nuckeln die Leute aus mitgeführten Fläschchen. Die meisten der Pokémon-Spieler sind formell volljährig und gelten damit als erwachsen. Viele von ihnen sollen, habe ich mir sagen lassen, Studierende sein. Eine Universität, wie die Gießener Justus Liebig-Universität, die mit dem dümmlichen Slogan „Ich bin Justus“ um Studierende wirbt, darf sich nicht wundern, wenn sie Pokémon-Studenten anzieht. Wenn die Gießener Universität dereinst endlich Georg Büchner-Universität heißen und Forschung und Lehre an seinen Zielen, also der sozialen Emanzipation, ausrichten wird, wie es die 68er Bewegung schon einmal gefordert hatte, werden sich auch andere Studierende an ihr einschreiben. Justus Liebig, Professor für Chemie und Pharmazie an der Gießener Universität, hat Büchner unter anderem Modell gestanden bei der Gestaltung der Figur des zynischen Doktors in seinem Dramenfragment Woyzeck.
Die Konsumgesellschaft verhindert das Erwachsenwerden und fixiert die Menschen auf einem kindlich-pubertären Zustand, der sie offen hält für ständig neue Beeinflussungen. Wirklich erwachsen gewordene Menschen weisen eine charakterliche Prägung auf, sie sind nicht universell fungibel und mit allem und jedem kompatibel. Charaktere sind heute nicht mehr erwünscht und so entstehen auch kein mehr, weil die Bedingungen für ihre Herausbildung schwinden.
Muskelprotze benehmen sich wie kleine Jungs
Den Vogel abgeschossen haben aber zwei Typen, die ich in der folgenden Woche am Eingang des Parks sah. Sie hatten ihren schwarzen Riesenschlitten vor dem Blumenladen im absoluten Halteverbot abgestellt, um gleich schon mal zu demonstrieren, dass Regeln für die anderen gelten, aber nicht für tolle Hechte wie sie. Ich kenne diesen Männertyp aus dem Gefängnis aus dem Effeff: Zuhälter- oder Türsteher-Typen. Abgeschorene Schädel, die eigentlich nur kleine Denkbeulen sind, die auf monströsen Körpern sitzen, Gangstersonnenbrillen, die muskelbepackten Oberarme voller Tätowierungen, schwarze Klamotten – halt das volle Programm. Aus dem Kofferraum holten sie irgendein technisches Gerät, das sie mit großem Aplomb eingangs der Fußgängerzone aufbauten. Dann ließen sie eine Drohne steigen, eine kleine, mit einer Kamera ausgestattete Drohne. Auf dem Gehweg bildete sich eine große Zuschauermenge, die staunend dem Gerät hinterher sah, das brummend über den Dächern und den Bäumen des Parks kreiste. Im Grunde benahmen sich die Muskelprotze wie kleine Jungs, die den anderen aus der Siedlung ihr neues Modellflugzeug vorführen, das sie zu Weihnachten bekommen haben.
„Das hat ja gerade noch gefehlt! Was ist denn das jetzt wieder?“, meldete sich die Blumenhändlerin zu Wort, die uns schon ein paarmal begegnet ist. Sie hatte ihren Laden verlassen, um zu schauen, was der Anlass für den Menschenauflauf vor ihrem Geschäft war. Irgendwann verloren die großen Jungs das Interesse an ihrem Spielzeug, packten es ein und trollten sich in eins der Cafés in der Fußgängerzone, um einen Drink zu nehmen und sich sehen und feiern zu lassen. Ihren Luxusschlitten ließen sie natürlich im Halteverbot stehen. Scheiß auf die dreißig Euro, die das notfalls kostet.
Die Drohnendemonstration hat – nebenbei bemerkt – auch den Effekt, uns an diese Geräte zu gewöhnen und sie uns als harmloses Freizeitvergnügen zu präsentieren. Wenn wir von Drohneneinsätzen hören oder lesen, sollen wir an dieses harmlose Spielzeug für Erwachsene denken. Dabei wird auch mit den zivilen Drohnen mitunter Krieg geführt, ein Alltagskrieg gegen Nachbarn und Mitmenschen. In ihrer Hauptfunktion als Kampfdrohnen bringen sie Tod und Verderben über ganze Weltregionen. Seit 2001 werden Drohnen vor allem von den USA im „Krieg gegen den Terror“ eingesetzt. Rund 200 Menschen werden durch sie jährlich umgebracht, überwiegend unschuldige Zivilisten, nicht nur führende Taliban oder IS-Leute, wie man uns weißmachen möchte. Seit Langem wissen wir (oder könnten es doch wissen), dass dieses Töten auch von deutschem Boden aus betrieben wird.
U. und ich flohen aus dem Wahnsinn in den botanischen Garten. Es ging uns mit diesem Fluchtversuch wie dem Bauern aus einer Geschichte, die Alfred Kantorowicz eingangs seines Deutschen Tagebuches erzählt. Die Geschichte spielt irgendwann und irgendwo in China und geht abgekürzt so: Ein Bauer reitet aus seinem abgelegenen Dorf in die nächste Stadt, um etwas einzukaufen. Auf dem Rückweg sieht er zu seinem Entsetzen einen riesigen feuerspeienden Drachen, der ihn zu verschlingen droht. Der Bauer reitet um sein Leben und tatsächlich gelingt es ihm, zu entkommen. Nicht mehr weit von seinem Dorf entfernt, begegnet er dem Kind eines Nachbarn, das auf dem Weg zur Großmutter in der Stadt ist. Der Bauer warnt das Kind vor dem Drachen, der auf dem Weg zur Stadt lauere, und lässt es hinter sich aufsitzen, um ins Dorf zurückzureiten. Das Kind hinter ihm beginnt ihn neugierig nach dem Drachen auszufragen. Ob er Feuer gespien, ob er riesige Drachenzähne und furchtbare Klauen gehabt habe? Als der Bauer alle Fragen beantwortet hatte, schwieg das Kind einen Moment. Dann sagte es mit süßer, einschmeichelnder Stimme: „Sieh dich doch mal um, sah er vielleicht so aus?“ Der Bauer wandte sich um, da saß hinter ihm der Drache auf dem Pferd und drehte ihm mit seinen fürchterlichen Klauen den Hals um.
Der Wahnsinnspegel steigt und steigt
Nun, ganz so schlimm erging es uns nicht. Aber auch wir kamen, wie man so sagt, vom Regen in die Traufe. Auch hier wimmelte es von jugendlichen Pokémon-Jägern und Leuten, die in ihre Handys hineinredeten beziehungsweise -brüllten. In den Schaukästen eingangs des botanischen Gartens hängen neuerdings Zettel, die den Garten zu einer „drohnenfreien Zone“ erklären. Mit einem dicken Ausrufezeichen hinten dran. Dafür wird es Gründe geben. Offenbar haben auch hier Leute ihre Spielzeuge steigen lassen und Aufnahmen aus der Luft gemacht. Aber, so frage ich mich, was ist eine Drohne gegen den ganzen digitalen Wahnsinn und gegen die grassierende Dummheit? Als Anfang der 1980er Jahre gegen die Stationierung der Pershing-Raketen demonstriert wurde, fragte Rainald Goetz: Was ist eine Pershing-Rakete „gegen die viel zu viele dumme Dummheit?“ und antwortete: „Ein geistreicher, stählerner Witz!“ Statt den Einsatz von Drohnen im botanischen Garten zu verbieten, zumal ihr Aufkommen dort sehr gering sein wird, sollte man lieber den Besuchern den Gebrauch von Handys, Smartphones, Tablets und Bluetooth-Lautsprechern verbieten und sie zur Ruhe anhalten.
Vor Jahren habe ich einmal den botanischen Garten als eine Oase der Ruhe gepriesen. Im Jahr 2009 schrieb ich aus Anlass seines vierhundertjährigen Bestehens: „Wer die Pforte passiert und in den Garten eintritt, taucht ein in eine andere Zeitzone. Sofort spürt man wohltuend den Kontrast zur hektischen Betriebsamkeit der Stadt und verlangsamt automatisch den Schritt. Bänke stehen unter großen, alten Bäumen und laden zum sitzenden Verweilen und Lesen ein. Wo sonst trifft man so viele lesende Menschen an? Die Geschwindigkeit wird durch ältere Menschen vorgegeben, die sich hier treffen und miteinander redend ihre Runden drehen. Für sie ist der botanische Garten ein Refugium des Vertrauten inmitten einer Welt, die immer unvertrauter und unübersichtlicher wird. (…) Der botanische Garten wird zu einem Asyl für vom Aussterben bedrohte Pflanzenarten und für Stadtbewohner, die unter der fortlaufenden ökonomischen Vergewaltigung der Stadt leiden und nach Orten suchen, die frei sind von aufdringlichen Kaufappellen und rastlos-unruhigen Verwertungszwängen. Solche kommerzfreien Inseln der Stille und der Verlangsamung gehören zum sozialen Immunsystem einer Stadt. Wie wichtig diese für unser aller Leben sind, merken wir oft erst, wenn sie verschwunden sind.“
So ist es nun gekommen. „Gibt es denn überhaupt keine Orte mehr, die frei sind von diesem Wahnsinn?“, fragte U., und setzte hinzu: „Ich werde noch zur Amokläuferin.“ Ich hatte ihrer Resignation und Verzweiflung nichts entgegenzusetzen. Bis zu seinem Tod Ende letzten Jahres hatte ich von Lemmy Kilmister nichts gehört. Dann brachte die Süddeutsche Zeitung aus Anlass seines Todes ein Gespräch, das Alexander Gorkow 2008 mit ihm geführt hat. Nachdem ich das gelesen hatte, bin ich ein posthumer Fan von Lemmy Kilmister geworden. Befragt danach, was die Quintessenz seiner Lebenserfahrungen sei, antwortete er: „Haltet euch fern von den Idioten … Die Regel lautet: acht von zehn … Acht Idioten an einem guten Tag. Sonst: neun. An einem schlechten Tag triffst du zehn Leute und einer wie der andere ist ein kompletter Vollidiot.“ Dem ist nichts hinzuzufügen, außer dass die Tendenz in Richtung zehn von zehn weist.
Mit Brecht frage ich mich: Was sind das für Zeiten, da ein Gang durch die Stadt einen Menschen, der sich einen Rest an Sensibilität bewahrt hat, in eine präsuizidale Krise stürzt oder Gefahr laufen lässt, zum Amokläufer zu werden? Der Wahnsinnspegel steigt und steigt, und ich kann mich nur noch schreibend über Wasser halten. Ich gebe mir Mühe, meine Wut zu sublimieren und werfe nur symbolische Bomben auf die Wirklichkeit: meine Worte.
Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitete mehr als drei Jahrzehnte lang als Gefängnispsychologe im Erwachsenenvollzug in Butzbach. In der „Edition Georg Büchner-Club“ erschien im Juli 2016 unter dem Titel „Zwischen Arbeitswut und Überfremdungsangst“ (Hier steht die Rezension) der zweite Band seiner „Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus“. Der erste Band „Zwischen Amok und Alzheimer“ erschien 2015 im Verlag Brandes & Apsel.
Einfach köstlich, Herr Eisenberg. Danke!
150% Zustimmung. Vor allem und auch zum Zitat von Lemmy Kilmister.
An dieser „digitalen Gesellschaft“ kann man bei klarem Verstand eigentlich nur noch verzweifeln…
Vor einigen Wochenenden hatte ich auch das zweifelhafte Vergnügen, um Mitternacht von Pokémon-Jägern vor meinem Schlafzimmerfenster aus dem ersten Schlaf gerissen zu werden. Wehmütig dachte ich dabei an eine Anekdote aus einem Science-Museum in Norddeutschland in den 1990er Jahren – das war die Zeit des Tamagochi-Hypes. Mit sichtlichem Stolz erzählte die Ausstellungsleitung des neu eröffneten Museums, dass eine Schulklasse vor lauter Begeisterung über die angebotenen Experimente ihre Tamagochis in den Hosentaschen vergessen und diese elendiglich hatte ‚verhungern‘ lassen. Fazit: Ein spannendes, mit den eigenen Sinnen begreifbares Entdeckungsangebot schlug ein digitales Spielzeug mit Bravour.
Wunderbar geschrieben, mehr davon!
Das Interview mit Lemmy Kilmister kann man hier nachlesen:
kilmister-interview
Ich habe gebrüllt vor Lachen.
Da gibt es eigentlich nichts hinzuzufügen außer, dass es noch Zonen in Deutschland ohne Handyempfang gibt, vielleicht sollten diese Zonen als Naturschutzreservate ausgewiesen werden.
Vielen Dank für Ihren Artikel und bleiben Sie weiter so
Ziemlich schwacher Artikel in meinen Augen. Der Hauptfehler liegt schon darin, dass der Autor einen sehr kleinen Zeitbereich nimmt und die nötige Abstraktion vermissen lässt um es entsprechend in Relation zu setzen. Da hilft auch nicht das Zitieren von Größen wie Satre oder Marx. Lieber das eigene Hirn einschalten, als einfach teils unpassende Zitate irgendwie versuchen damit in Verbindung zu bringen (machen irgendwie viele Menschen, die meinen intellektuell zu sein). Für einen Sozialwissenschaftler bin ich auch überrascht, dass scheinbar kaum oder keine Kenntnisse zu Neurowissenschaften existieren, dann würde der Autor vielleicht gar selbst merken, dass man das Geschriebene gar nicht so heiß essen braucht, wie er es kocht.
1. Man spürt deutlich die Verachtung gegenüber einer Generation und Welt sowie dem technischen Fortschritt. Das dieser sich in teilweise eigenartigen Extremformen zeigt, das gibts überall und zu fast jeder Zeit (also z.B. ein Hobby exzessiv betreiben). Und dann gibts immer die Fraktion der Angst und Furcht vor Neuem. Böse Bücher, böses Fernsehen, böses Internet, böse Smartphones, usw. Also lieber irgendwie romantisch einer bestimmten Zeit nachtrauern wo alles noch gut war. Komisch, dass es Personen mit diesem konservativen Denkstil irgendwie in jeder Generation gab und gibt. Oder eben auch nicht, da wir Menschen auch mehr oder weniger Gewohnheitstiere sind und es eigentlich Basics der Psychologie darstellt (wie gesagt, es scheint Defizite im Bereich der Neurowissenschaften zu geben).
2. Das „Brot und Spiele“ Prinzip ist sehr wohl bekannt und trifft man in 1000 Jahre Geschichte in allen möglichen Kulturen an. Der Vergleich der Hippies mit den Pokemon Jägern hinkt deshalb auch, weil es eben Äpfel und Birnen sind. Pokemon Go ist schon eher sowas wie z.B. die Gladiatorenkämpfe zur Zeit des römischen Reichs. Sehr abstrakt, aber auf psychologischer Ebene geht es eben um Zerstreuung und Ablenkung.
3. Selbst wenn es womöglich bestimmten Kreisen und Machthabern ganz recht ist, dass die Leutz sich lieber Spielen, Zerstreuung, Konsumismus, usw. hingeben, als über wichtige gesellschaftliche Fragen nachzudenken, so ändert es nichts an der Tatsache, dass viele sich freiwillig darin begeben. Da wird immer so getan, als hätten die Leute gar keine Wahl mehr und wären quasi gezwungen ihr Hirn abzuschalten. Diese Sichtweise (besonders linker Kreise) hat mich immer schon überrascht, da sie quasi ja dann auch sagen die Mehrheit wäre unmündig. Es ist eben ein Mix aus gesellschaftlichen, kulturellen, wirtschaftlichen, etc… Regeln und Vorgaben, aber eben auch individueller Freiheit (besonders in der 1. Welt). Und bei letzterem entscheiden sich eben ganz viele für sowas wie Pokemon Go weil – und jetzt ne ganz große Überraschung – es ihnen SPAß macht. Ja, kaum zu fassen, dass Menschen nach oft 8h (oder mehr) Arbeitsalltag einfach abschalten wollen. Das muss ne Verschwörung sein!
Falls mein Kommentar zynisch und teils abwertend klingt, dann war das genau so beabsichtigt. Da ziehe ich quasi nur mit dem Autor gleich.
Lieber Umdenker,
Ihre Kritik an Eisenbergs Argumentation spiegelt – natürlich unfreiwillig komisch – die ganze Dimension einer perfekten neoliberalen Indoktrination wider. So gesehen herzlichen Dank für Ihre Bereitschaft, sich dahingehend als Testimonial zur Verfügung zu stellen.
Hör auf die Leute zu stalken
Böse: Die Alt-68iger sind in Bezug auf die nachwachsenden Generationen so geworden, wie sie damals nie werden wollten.
Neutral: Wir (in der westlichen Welt, aber auch auf dem ganzen Planeten) leben seit längerem in wahrhaft revolutionären Zeiten: Die digitale Revolution ist noch lange nicht vorbei.
Nett: Herr Eisenberg, lesen sie mal die Daemon-Bücher von Daniel Suarez, vor allem den 2. Band. Pokemon-Go ist erst der Anfang…
https://en.wikipedia.org/wiki/Daemon_(novel_series)
8 von 10 war einmal in besseren Zeiten. Heute gilt die 99er-Regel: 99% sind Idioten. Man kann das durchaus auch an sog. „smarten Telefonen“ festmachen, *mit* denen ihre Besitzer reden statt *über diese* Geräte mit dem Idioten am anderen Ende der Leitung zu reden.
Lieber Götz Eisenberg,
in einem muß ich Ihnen widersprechen: Egal welchen Slogan die Uni Gießen, wie immer sie dann heißen mag, haben wird: Die Studenten werden sich Gießen aussuchen, weil es nicht weit von daheim ist. Das Studium ist immer mehr die ärgerliche Durststrecke zwischen Schule und Geldverdienen geworden.
@R1D2
Ich nehme an, sie benutzen kein Telefon?
Und reiten zu Pferd zu arbeit?
Und diesen kommentar haben sie auch nicht mit Hilfe eines Rechners geschrieben?
Bei Pokemon handelt es sich lediglich um ein Spiel, wer es nicht mag, wird nicht gezwungen es zu Spielen…
Es setzt sich doch niemand hin und verfasst Hassartikel über Stockschwingende Männer in kurzen Hosen, die versuchen einen Ball ins Loch zu befördern…
Na – den Antworten-Button unter dem Posting nicht gefunden, vor lauter elektronischer Expertise?
Die Verteidiger des Pokémon-Wahnsinns hier offenbaren einen betrüblichen Mangel an Textverständnis.
Was Aussagen der Neurowissenschaft zum Gebrauch elektronischer Geräte insbesondere in der Kindheit angeht, so empfehle ich das Buch »Die Lüge der digitalen Bildung: Warum unsere Kinder das Lernen verlernen« von Gerald Lemke (http://gerald-lembke.de/autor/).