BÜCHER IM EXIL

Spuren jüdischen Lebens

von Jörg-Peter Schmidt

Unzählige Bücher sind von den Nationalsozialisten geraubt oder vernichtet worden. Dennoch konnten verschiedene Druckwerke erhalten bleiben. Der Historiker Prof. Dr. phil. Dr. h. c. Robert Jütte ist  den Lebensläufen jüdischer Emigranten nachgegangen, denen diese Schriften gehörten. Er berichtete jetzt darüber in Gießen und sorgte dabei quasi „nebenbei“ noch im positiven Sinn für Verblüffung. 

Kleine Vermerke erzählen viel

Der Honorarprofessor an der Universität Stuttgart löste gegen Ende seiner Ausführungen ein Rätsel hinsichtlich des handschriftlich markierten Vornamens  „Ernst“  in einem historischen Reiseführer, was aus mittelhessischer Sicht sehr interessant ist. Davon im Laufe dieses Berichtes an anderer Stelle mehr. 

Prof. Robert Jütte in der Gießener Unibibliothek.

Der frühere Professor für Neuere Geschichte an der Universität Haifa/Israel hielt in der Bibliothek der Justus-Liebig-Universität (JLU) Gießen in der gemeinsamen Veranstaltung der Arbeitsstelle Holocaustliteratur, des Literarischen Zentrums Gießen (LZG) und der Uni-Bibliothek einen sehr interessanten, spannenden Vortrag. Mit Unterstützung seiner Frau aus Israel (geb. in Tel Aviv) ) ist bei ihm eine Sammlung von Büchern nach und nach gewachsen, die eines gemeinsam haben: Man findet oft vorwiegend handschriftlich Hinweise, wem diese Romane, Sachbände oder auch Gebetbücher gehörten.

Zehn tragische Schicksale

Cover von „Bücher im Exil – Lebensspuren ihrer jüdischen Besitzer“ (Verlag Metropol). Umschlagabbildung: Alter Vogel. Eine jüdische Novelle. Ehemals im Besitz der von den Nazis geplünderten Leihbibliothek der jüdischen Gemeinde Ingwiller im Elsass.
 

Anhand von oft nur kleinen Hinweisen auf die Namen der jeweiligen Emigranten gelang es Robert Jütte (Historiker, Fachmann in medizinischen Fragen) bei seinen oft schwierigen Recherchen, den entsprechenden Lebensläufen nachzugehen, die meistens mit einer Flucht über mehrere Länder bis beispielsweise nach Palästina verbunden waren. In seiner in Gießen vorgestellten Veröffentlichung „Bücher im Exil – Lebensspuren ihrer jüdischen Besitzer“ (Verlag Metropol) erfährt man von zehn Einzelschicksalen Überlebender, aber auch von einem jungen Berliner jüdischen Glaubens, der von Hitlers Gefolgsleuten 1942 deportiert und in Auschwitz ermordet wurde.

Junger Mann von den Nazis ermordet

Wie er bei seinen Erkundigungen vorgegangen ist, beschrieb der frühere Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung,  nachdem er von Peter Reuter (Leiter der Gießener Uni-Bibliothek) und Prof. Dr. Sascha Feuchert (Vorsitzender des Literarischen  Zentrums Gießen und Leiter der Arbeitsstelle Holocaustliteratur in Gießen) vorgestellt worden war. Jütte sah sich die Vermerke, die in die Exemplare  seiner Sammlung vorwiegend eingangs hineingeschrieben worden waren, näher an. Welches Leben stand wohl hinter den Namen, die man hier zu lesen waren?

In den einzelnen Kapiteln erfährt man Näheres. Die Überschrift  des zweiten  Abschnitts lautet: „Ein jüdisches Gebetbuch als einzige Hinterlassenschaft eines Shoa-Opfers: Walter   Owitz“.  Ein Bekannter hatte dem Professor einige Bücher übersandt,  darunter auch ein jüdisches Gebetbuch für eine Reformgemeinde in Berlin aus dem Jahr 1931. Auf dem hinteren Einbandzettel fand sich ein eingeklebter Zettel mit dem vorgedruckten Text: „zur Erinnerung an die am … .ten … 19 … in der Synagoge Lindenstraße  zur Einsegnung überreicht von der Jüdischen Gemeinde in Berlin.“ Handschriftlich war das Datum 14. Dezember 1935 eingefügt worden.

Über dem eingeklebten Zettel hatte jemand das obere Viertel mit einem weißen Zettel kaschiert. Aber  mit Hilfe von Wasserdampf ließ sich die Überschichtung ablösen und es war erkennbar, wer eingesegnet wurde: Walter Owitz. Die Recherche Robert Jüttes brachte die traurig stimmende Gewissheit: Der junge Mann war in Auschwitz ermordet worden. Man merkte den Zuhörerinnen und Zuhörern die Betroffenheit an: Es tut einem in der Seele weh zu wissen, dass dieser junge Mensch dem Terror der Nationalsozialisten zum Opfer fiel.

Den Nazis entkommen
Der Autor recherchierte den Lebensweg der Eheleute Elisabeth und Siegfried Stern, die einen Ernst  einen Palästina-Reiseführer geschenkt hatten. Sie schrieben eine Widmung in das Buch. (Aus dem Buch von Robert Jütte „Bücher im Exil“)

Einen Schwerpunkt des Vortrags bildete das Kapitel unter der Überschrift: „Ein Palästina-Reiseführer als Souvenir aus Haifa: Elisabeth und Siegfried Stern“. Diesen Reiseführer von Hugo Herrmann von1934 hatte Prof. Jütte auf einer  Antiquariats-Messe erworben.  Auf dem Vorsatzblatt stand eine Widmung: „Lieber Ernst! Behalte Palestina und uns in guter Erinnerung. Haifa 12/10/47. Elisabeth & Siegfried Stern.“  Erst nach Erscheinen seines Buches konnte der Autor in Erfahrung bringen, bei wem es sich um Ernst handelte. Aber soweit war er noch nicht. Erst einmal ging er der Frage nach, ob zu erfahren war, wer Elisabeth und Siegfried Stern waren und welchen Lebensweg sie hatten. Beide waren aus Deutschland nach Palästina ausgewandert, um  den Nazis zu entkommen, recherchierte Jütte auch dank Google-Veröffentlichungen. Elisabeth war Lehrerin, ihr Ehemann Rechtsanwalt. Er starb bereits im Alter von 56 Jahren.

Prof. Jütte erfuhr nach dem Zweiten Weltkrieg durch einen Zufall, dass  Elisabeth Stern in  Israel  noch lebte und bereits über 100 Jahre alt war. Bei einem Besuch Jüttes und seiner Frau im Kibbuz Maoz Haim  konnten sie in Erfahrung bringen, dass Elisabeth Stern in einem in Maoz Haim lebte. Jüttes Ehefrau nahm sogleich telefonischen Kontakt mit der Tochter von Elisabeth Stern auf. Doch weder die Tochter noch die Mutter konnten sich daran erinnern, wer 1947 den Reiseführer geschenkt bekommen hatte. Als 2022 „Bücher im Exil“ erschien, war also noch nicht geklärt, wer Ernst war.

Dieses Dokument weist auf den Aufenthalt Ernst Ludwig Chambrés in Palästina hin. (Die Fotografie ist von Prof. Robert Jütte zur Verfügung gestellt worden)

Später übersandte Robert Jütte die englische Ausgabe seines Buches an Verwandte, die  im Kibbuz Maoz Haim leben. Von den Verwandten kam die überraschende Nachricht, dass sie wussten, wer besagter Ernst war. Es handelt sich um den 1909 in Lich geborenen Ernst Ludwig Chambré, der gegen Antisemitismus kämpfte und von den Nazis schwer misshandelt wurde. Sie zertrümmerten ihm beide Kniescheiben und fügten ihm noch eine Kopfverletzung  bei. Er konnte emigrieren, lebte eine Zeit lang in Palästina, wo er  offensichtlich das Ehepaar Stern kennen lernten, die Chambré, bevor er in die USA übersiedelte, den Reiseführer schenkten.

Ernst Ludwig Chambré und seine Stiftung
Prof. Dr. Sascha Feuchert war völlig überrascht, als er vom Prof. Jütte erfuhr,  dass die Widmung der Eheleute für  Ernst Ludwig Chambré geschrieben wurde. 
 

Der Name  Ernst Ludwig Chambré ist mit der  Arbeitsstelle Holocaustliteratur verbunden. Chambré  hatte noch zu Lebzeiten in die Wege geleitet, dass unter seinem Namen eine Stiftung gegründet wird. Ihr Ziel: Die Erinnerung an das hessische Judentum aufrecht zu erhalten und zur Erforschung der Entstehungsbedingungen von Antisemitismus und Rassismus beizutragen. Somit wird auch die Arbeitsstelle Holocaustliteratur gefördert. Deren Leiter Prof. Sascha Feuchert war selbstverständlich völlig überrascht, zu welchem Ergebnis die Erkundigungen Robert Jüttes hinsichtlich der Frage geführt hatten, um welchen Ernst es sich bei der Widmung der Eheleute Ernst handelt.

Rabbinerbibliothek gerettet
Dr. Olaf Schneider.

Die Veranstaltung wurde abgerundet durch Erläuterungen von Dr. Olaf Schneider, Leiter der Sondersammlungen der Gießener Unibibliothek.  Er informierte über Raubgutbände aus jüdischem Besitz, die sich als Rabbinerbibliothek aus der Zeit des frühen 20. Jahrhunderts im Oskar-Singer-Raum befinden. Diese Sammlung geht auf Dr. David Sander zurück, der in Gießen Bezirksrabbiner und Lehrer  war. Die Bücher im Oskar-Singer-Raum können für Forschungszwecke genutzt werden, wie  Dr. Schneider am Ende der Veranstaltung  berichtete, die bewegende, tiefe Eindrücke hinterlassen hat.

Ausführliche Informationen über die Rabbinerbibliothek in der Unibibliothek findet man in der Zeitung der JLU Gießen „Uniforum“ vom 14. Dezember 2023.

„Bücher im Exil“: Lebensspuren ihrer jüdischen Besitzer“ von Prof. Robert Jütte ist im Verlag Metropol erschienen und kostet 19 Euro.

Titelbild: Um Bücher aus jüdischem Besitz ging es in der Veranstaltung, in der auch über Raubgutbände informiert wurde, die im Oskar-Singer-Raum der Gießener Unibibliothek gelagert sind. Fotos: Jörg-Peter Schmidt, 3)

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