Tattoos

„In jedem Dorf sitzt jemand, der tätowiert“

Von Klaus Nissen

Zwei niedrige, weiß gestrichene Zimmer sind das Tattoo-Studio von Mandy Pause an der Vogelsbergstraße in Stockheim (Wetteraukreis). Der vordere Raum hat einen Besprechungstisch, eine Theke mit Computer und eine Wand voller (meist weiblicher) Vornamen – hier verewigten sich die Kundinnen der Tätowiererin. Im hinteren Raum steht eine schwarze Liege. Auf den Regalen, in den Schubläden sind Desinfektionsmittel, Reinigungsöle, steril verpackte Nadeln. Sauberkeit sei wichtig, sagt die junge Frau mit dem runden Gesicht und dem freundlichen Blick. Im Interview erzählt Mandy Pause alias „Nadeltante“, warum sich immer mehr Menschen tätowieren lassen. Und das ohne ausreichende Qualitätskontrolle.

Warum so viele Menschen Tattoos tragen

Jeder Hallenbad-Besuch wird zur Bilderschau: Mindestens jeder fünfte Bundesbürger ist inzwischen tätowiert, fanden Forscher im Auftrag der „Apotheken-Umschau“heraus. Mehr als 16 Millionen Menschen. Die Zahl der Tattoo-Träger hat sich seit 2012 verdoppelt. Von den 20- bis 29-Jährigen hat jeder Dritte und jede Dritte mindestens ein Tattoo.




Das Blatt am linken Fußknöchel von Mandy Pause verdeckt ein ungeliebtes älteres Tattoo. Der gezackte Pfeil ist kaum noch zu erkennen. Das nennt man in der Branche „Cover Up“. Foto: Nissen

Als einen Grund dafür nennt Jörg Elsenbruch vom „Bundesverband Tattoo“ und den „Deutschen Organisierten Tätowierern (DOT) das Vorbild Prominenter, die im Fernsehen und Online-Medien ihre Tattoos zeigen. Die seien die „älteste Kunstform der Welt“, behauptet er angesichts der Tätowierungen des vor gut 5000 Jahren gestorbenen Gletscher-Mannes „Ötzi“. Allerdings sind die Tierbilder in Lascaux und anderen Höhlen noch zehntausende Jahre älter.

Makrophagen fressen die Pigmente

Der Tattoo-Boom führte laut Elsenbruch dazu, dass sich nun auch „unzählige untalentierte Menschen“ Tätowierer nennen. Die Branche ist vielfältig und unterliegt weniger Vorschriften als andere Berufe. Sogar die Augäpfel kann man sich tätowieren lassen. Die Tätowiernadel transportiert winzige Farbpigmente in die mittlere Hautschicht. Sie werden dort von Makrophagen aufgenommen – den Fresszellen des Immunsystems, zitiert Elsenbruch eine Studie aus Frankreich. „Stirbt einer der Makrophagen, gibt er die Pigmente frei. Aber bereits kurz darauf wird die Farbe wieder von einer neuen Zelle verspeist.“

So sieht eine Tätowiernadel aus. Sie ist keimfrei verpackt und wird nur einmal benutzt. Foto Nissen

Deshalb sei das Pigment über Jahrzehnte sichtbar. Bisher gebe es keine Studie, wie viel der Tattoo-Tinte im Körper bleibe. Auch keinen Nachweis, dass sie Krebs erzeugen könne. Die jährlichen Kosten der Krankenkassen zur Behandlung schiefgelaufener Tätowierungen lägen nur bei 25 000 Euro. Wikipedia nennt Infektionsgefahren beim Tätowieren und zitiert Studien, nach denen Pigmente auch in die Lymphknoten und andere Organe einwandern.

Interview mit Tattoo-Künstlerin Mandy Pause

Frau Pause, Sie gehören zur wachsenden Gruppe der tätowierten Menschen. Was unterscheidet sie von Leuten wie mir, die keinen Körperschmuck tragen?

Außer der Tätowierung nichts Grundlegendes. Vielleicht das Alter. Die meisten Kundinnen und Kunden sind unter 50. Aber ich habe auch schon eine Frau in den Mittsechzigern tätowiert. Sie sagte mir, sie habe Tattoos nie verstanden. Aber dann sei ihr Mann gestorben. Zur Erinnerung an ihn habe sie sich ein Motiv stechen lassen. Später kam sie für eine weitere Sitzung zu mir – weil es einen neuen Mann in ihrem Leben gibt.




Mandy Pause (29) ist Erziehungswissenschaftlerin. Während des Studiums jobbte sie in einem Tätowierstudio. Sie blieb beim Metier, öffnete 2017 an der Vogelsbergstraße in Stockheim ein eigenes Studio und gibt auf www.nadeltante.com Tipps für Motive und Wundbehandlung beim Tätowieren. Foto: Nissen

Man holt sich ein Tattoo als unauslöschliches Bekenntnis zu einem Menschen oder einer Idee?

Genau. Es gibt viele bedeutungsschwangere Tattoos. Aber es kommen auch Studis, die bei Freunden ein schönes Motiv auf der Haut gesehen haben und selber so etwas wollen. Einen Körperschmuck, der etwas her macht. Oder ein Tattoo, das einfach witzig ist.

Auch schöne Tattoos sind eine Körperverletzung

Auch schöne Tattoos sind eine Körperverletzung. Sie stechen mit Nadeln auf andere ein und schießen Farbe in den Körper. Ihr künstlerisches Talent könnten Sie auch als Malerin oder Zeichnerin ausüben.

Klar – es ist eine Körperverletzung. Ich finde es nicht schön, anderen Leuten Schmerzen zuzufügen. Aber die Leute kommen freiwillig. Und es kommt etwas Gutes dabei heraus. Ich schaffe lebendige Kunstwerke und komme dabei auch in Kontakt zu den Menschen, die ich tätowiere. Was sie bewegt, kann ich künstlerisch umsetzen. Das ist viel mehr, als ein Bild zu malen.

Stillleben mit Pflegeöl, Desinfektionsspray und künstlichen Händen im Stockheimer Tattoo-Studio von Mandy Pause. Foto: Nissen

Haben die Menschen eigene Motiv-Ideen?

Das ist verschieden. Früher hat man sich Flash-Tattoos aus Vorlagenbüchern herausgesucht. Die sind natürlich nicht einzigartig. Ich zeichne nach dem Kundengespräch meinen Motivvorschlag für diese Person. Meistens sind es eher filigrane Blumen- und Pflanzenmotive im Line- and Dotwork-Stil. Schwarz, maximal mit einigen weißen Akzenten. Aber wenn einer einen Totenkopf will, steche ich den auch. Ich mache keine Schattierungen und setze Farbe nur sparsam ein, um einen Akzent zu setzen.

Drohte nicht die EU um 2020 mit dem Verbot, farbig zu tätowieren? Wegen womöglich giftiger Pigmente?

Es standen viele Farben auf dem Prüfstand. Alle Farben, die jetzt tätowiert werden, entsprechen der Tätowiermittel-Verordnung der EU. Außerdem haben wir eine von unserem Berufsverband selber angestoßene DIN-Richtlinie. Unsere Branche hat sich die Anforderungen an die Farben und den Tätowier-Vorgang praktisch selber auferlegt.

Die Tätowier-Branche ist also unterreguliert?

Das stimmt. Es gibt keine staatlich anerkannte Berufsausbildung. Ich kann auch mir auch ohne Talent ein Starter-Set aus China kaufen und „Tätowierer“ auf die Haustürklingel schreiben. Wer damit Geld verdienen will, braucht nur eine Gewerbeanmeldung und einen Hygiene-Sachkundenachweis. Einen Acht- oder einen 40-Stunden-Kurs – das ist alles. Dabei arbeiten wir mit Blut, gehen Millionen Menschen unter die Haut. Ich würde mir eine obligatorische, fundierte Aus- und Fortbildung wünschen. Aber es gibt nur viele Kurse, nach denen man irgendein Zertifikat bekommt. Und in jedem Dorf sitzt jemand, der tätowiert.

Die Studios haben also eine hohe Eigenverantwortung in Sachen Hygiene und Berufsehre. Stechen Sie ein Tattoo, auch wenn Sie spüren, dass eine Kundin es nur aus einer Laune heraus haben will?

Dann sage ich: Denk nochmal darüber nach. Wenn jemand auf Dauer unsicher bleibt, schicke ich ihn oder sie lieber heim. Das ist aber selten der Fall.

Wer minderjährig ist, bekommt von #nadel.tante kein Tattoo.

Kommen auch Minderjährige mit Tattoo-Wünschen?

Klar. Ich persönlich steche nur Leute ab 18 Jahren – auch wenn ich für jüngere eine Einverständniserklärung der Eltern bekäme.

An Ihren Armen sehe ich Blumen. Sind das auch die Haupt-Motive ihrer Kundinnen?

Sie kommen zu mir, weil ich so etwas steche und auf meinem Instagram- und Tiktok-Kanal poste. Ich sehe, dass sich die Vorlieben für Motive ungefähr im Quartalsrhythmus verändern. Zuletzt waren Löwen begehrt. Und jetzt habe ich viele Anfragen für Schlangen-Tattoos.

Die neuen „Arschgeweihe“ sehen anders aus

Gibt es noch Frauen, die sich wie vor 30 Jahren ein „Arschgeweih“ auf das Becken tätowieren lassen?“

Ja, aber nicht mehr so wie damals. Eher das Unendlichkeits-Symbol, Sterne oder Herzen. Der Wunsch ist stärker geworden, wirklich individuelle Tattoos zu tragen.

Es scheint ja eine Tätowier-Sucht zu geben. Wer einmal gestochen wurde, will weitere Tattoos. Im Extremfall, bis sie über den Kragen wuchern. Trotz des damit verbundenen Schmerzes.

Es ist wirklich die Ausnahme, dass jemand bei einem einzigen Tattoo bleibt. Für viele gehört der Schmerz auch dazu. Klingt absurd, aber: Es fühlt sich gut an, ein weiteres Tattoo zu bekommen. Wie eine bestandene Mutprobe. Wenn die Klienten es zum ersten Mal im Spiegel sehen, verklärt sich der Blick. Es kommt dann auch vor, dass der Eine oder die Andere weinen muss. Als ob das Tattoo schon immer da war, und ich es nun sichtbar gemacht habe.




Mandy Pause sitzt auf der Tätowier-Liege in ihrem Studio an der Stockheimer Vogelsbergstraße. Eigentlich ist sie Erziehungswissenschaftlerin. Doch nach ihrem Studentenjob in einem Tattoo-Studio blieb die jetzt 29-Jährige sie dem Metier treu. Foto: Nissen

Wie reagieren Sie, wenn jemand den Hals oder sogar das Gesicht tätowiert haben will?

Das kommt selten vor. Ich merke, dass Hände mehr Tattoos tragen als früher. Ich bin da zurückhaltend. Aber Sie finden auf jeden Fall einen Tätowierer, der so etwas macht.

Manche finden Blackout-Arme schön

Was tun, wenn der Name des Liebsten auf dem Arm länger hält als die Beziehung?

Man kann ihn weglasern lassen – damit verdienen Hautärzte ihr Geld. Manchmal passt auch ein Cover-Up. Das alte Motiv wird in ein neues so integriert, dass es nicht mehr auffällt.

Bis der Arm ganz schwarz ist.

Unter einem Blackout-Arm steckt nicht nicht unbedingt ein ungeliebtes Tattoo. Manche finden ihn einfach schön.

An Ihrem Handgelenk sehe ich das Wort „Manchmal“. Was hat es damit auf sich?

So ein irritierendes Motiv führt zu Nachfragen. Man kommt also mit anderen ins Gespräch – und das wollen viele von meinen Kundinnen und Kunden. Das „Manchmal“ gehört zur Aktion #wirkönnensonnelachen. Ich habe die Wetterauer Poetry-Slammerin Lea Weber gebeten, einen 181 Wörter langen Text zu verfassen, in dem es um Freundschaft und Nächstenliebe geht. Gut 90 Wörter habe ich schon anderen Leuten und mir selber in die Haut gestochen. Pro Wort gehen 25 Euro an den Verein „Herzenswünsche“, der schwer kranken Kindern und Jugendlichen lang ersehnte Wünsche erfüllt.

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