Kinder der Gewalt

Porträt Russlands in fünf Verbrechen

Von Michael Schlag

In seinem Buch „Kinder der Gewalt“ schildert Julian Hans fünf schwere Verbrechen, die im Westen nie in den Nachrichten erschienen, als Spiegel der russischen Gesellschaft.

Gewalt und Rechtlosigkeit sind Alltag

Woher stammt die Brutalität, mit der russische Soldaten in der Ukraine morden, plündern und vergewaltigen? Warum wehren sich so wenige Russen gegen den Krieg? Mit welcher russischen Gesellschaft wird man es zu tun haben, wenn Putin eines Tages nicht mehr im Kreml sitzt? Julian Hans, ehemaliger Moskau-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, zeichnet das düstere Porträt einer Gesellschaft, in der Gewalt und Rechtlosigkeit seit Generationen zum Alltag gehören: „Menschen, die ihr Leben lang erniedrigt wurden und daher schnell bereit sind, andere zu erniedrigen. Menschen, die nie erfahren haben, dass ihr eigenes Leben geschützt und geachtet wird, und die deshalb schwer Achtung und Mitgefühl für andere entwickeln können. Menschen, die gelernt haben, dass es keine Wahrheit gibt, die nicht morgen in ihr Gegenteil verkehrt werden kann.“

Julian Hans kennt Russland seit vielen Jahren, sein journalistisches Vorgehen ist genial: Er schildert fünf schwere Verbrechen, die im Westen nie in den Nachrichten erschienen, die aber in Russland fast jeder kennt. Er stellt dabei aber nicht die Taten in den Mittelpunkt, sondern erklärt das Umfeld von Willkür, Schweigen und Angst – fünf Kriminalfälle als Spiegel der russischen Gesellschaft. Polizisten, die nicht ermitteln; Richter, die keine Haftbefehle ausstellen, der Einzelne rechtlos.

Die Fälle

Die Fälle: Zwanzig Jahre hält eine brutale Bande eine Kleinstadt im Griff, raubt, vergewaltigt, kauft Polizisten und Staatsanwaltschaft. Die Anführer sitzen gar als Abgeordnete im Parlament und bedienen sich aus der Staatskasse.

Sechs junge Männer begehen Anschläge auf Streifenwagen und Polizeistationen, prangern damit ein Imperium an, „das auf Alkoholismus und Feigheit beruht, das sich bereichert, aber für das eigene Volk nichts tut“. Und die Bevölkerung sieht sie als Helden im Aufstand gegen Korruption und Polizeiwillkür, ganz in der Tradition der Partisanen im Zweiten Weltkrieg.

Drei Schwestern töten ihren Vater, der sie über Jahre wie Sklaven hält, missbraucht und schlägt. Ein gewalttätiger Psychopath, doch als die Schwestern vor Gericht stehen, ergreift ein Teil der Gesellschaft Partei für ihn. Verkörpert der Herr im Haus nicht doch traditionelle russischen Werte? Heißt es nicht, Du sollst Vater und Mutter ehren? Und häusliche Gewalt ist seit 2017 nicht mal mehr strafbar, beim ersten Mal gibt es nur ein Bußgeld. Jede Frau werde sich zweimal überlegen, schreibt Hans, ob sie Anzeige gegen ihren gewalttätigen Mann erstattet, wenn die Polizei sie anschließend zurückschickt in die gemeinsame Wohnung und das Bußgeld letzten Endes aus der Haushaltskasse bezahlt wird. Strafen für häusliche Gewalt wurden vorgeblich abgeschafft, um die Institution der Familie zu schützen, aber von dort geht eine Linie zur Regierung, denn „die Faust in der Familie ist die kleine Filiale der staatlichen Gewalt.“

Einer der bemerkenswertesten Sätze in dem Buch ist: „Denis Karagodin hat eine ganz gewöhnliche Familiengeschichte: Sein Urgroßvater wurde vom NKWD erschossen.“ Dieser Urgroßvater, ein sibirischer Bauer, wurde 1938 als japanischer Spion angeklagt und hingerichtet. Heute leben in der Stadt Tomsk in Sibirien 500.000 Menschen, das bedeutet „eine halbe Million Enkel und Urenkel von Verbannten, Eingesperrten, Erschossenen.“ In Tomsk leben aber auch Enkel und Urenkel von Gefängniswärtern, Lagerkommandanten und Erschießungskommandos. Und dann macht sich ein Urenkel auf den Weg, um den 85 Jahre zurückliegenden staatlichen Mord aufzuklären, und bricht dabei das Trauma einer ganzen Gesellschaft auf.

Düster, deformiert, aussichtslos

Wie sieht das Leben in den russisch besetzten Gebieten der Ost-Ukraine aus? Eine Performance-Künstlerin aus Moskau fährt nach Donezk, will dort das Haus ihrer Vorfahren und das Grab ihrer Großmutter besuchen. Sie und ihr Begleiter werden verhaftet, eine Nacht verhört und gefoltert. Der blanke Terror, ein Recht des Menschen gibt es hier nicht. „Was Katrin Nemaschewa von jener Nacht berichtet, klingt, als sei sie durch eine morsche Falltür aus der Wirklichkeit gestürzt.“

Und damit ist das Gefühl beschrieben, das man als Leser am Ende des Buches hat. Düster, deformiert, aussichtslos. Wie soll man mit diesem Land irgendwann wieder friedlich zusammenleben? Das letzte Kapitel des Buches trägt den Titel „Hoffnung“ und man hat den Eindruck, der Autor will seine Leser nicht so am Boden zerstört zurücklassen. Doch dieses letzte Kapitel ist nur sechs Seiten lang.

„Kinder der Gewalt – Ein Porträt Russlands in fünf Verbrechen“ von Julian Hans, Verlag C.H.Beck, ISBN 978-3-406-80886-9, 253 Seiten, 18 Euro, als E-Book 12,99 Euro.

Blick ins Buch: chbeck.de/hans-kinder-der-gewalt

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