Das Floß der Medusa
von Ursula Wöll
Im Louvre hängt ein monumentales, weltberühmtes Gemälde mit dem Titel „Das Floß der Medusa“, das Théodore Géricault im Jahr 1819 malte. Er nahm die Geschichte eines Schiffbruchs als Anregung. Der spielte sich 1816 im Atlantik ab. Sofort drängen sich Bilder unserer Gegenwart auf. Heute spielt sich die Tragödie im Mittelmeer ab, und zwar immer wieder. Weil Schlepper seeuntaugliche Boote mit Menschen überfrachten, um Kasse zu machen. Damals verursachten die Elemente den Schiffbruch, aber zur Tragödie wurde auch er durch Egoismus.
Nur 15 überlebten
1816 nahm Frankreich Senegal als Kolonie erneut in Besitz. Auf der Fregatte „Medusa“ segelten der künftige Gouverneur mit seinen Offizieren in die afrikanische Kolonie. Der unerfahrene Kapitän setzte das Schiff auf eine Sandbank, wo es im Sturm Schiffbruch erlitt. 400 Menschen waren auf dem Schiff, doch die sechs Rettungsboote reichten nur für die oberen Chargen. Für die Mannschaften und einfachen Soldaten zimmerte man ein Floß aus den Masten und Schiffsplanken. Es sollte an Leinen von den Booten an Land gezogen werden. Doch bald schon wurden die Leinen gekappt. Die 147 Menschen auf dem Floß trieben zehn Tage auf dem Meer, ohne Trinkwasser und Nahrung, so dass sogar Kannibalismus vorgekommen sein soll. Nur 15 überlebten. Das Bild wurde 1819 im Pariser Salon ausgestellt und führte zu einem Skandal, denn die Regierung hatte die Tragödie vertuschen wollen.
Aus Hoffnung wird Verzweiflung
Géricault spart auf seinem Gemälde die fortrudernden Rettungsboote aus, obwohl das Kunstwerk 491 x 716 cm groß ist. Der Künstler konzentriert sich ganz auf die Extremsituation auf dem Floß. Wochenlang hatte er zuvor in Leichenschauhäusern verrenkte Glieder zeichnen geübt. Seine Darstellung wählt einen Augenblick der Hoffnung, als nämlich am Horizont ein Schiff auftaucht, das aber die Hilfewinkenden übersieht und seinen Kurs ruhig weitersegelt. Man kann sich den Absturz der jähen Hoffnung in tiefste Verzweiflung kaum vorstellen. Die Schiffbrüchigen in ihrer totalen Hilflosigkeit sind den Elementen völlig preisgegeben. Zwar erlaubte sich Géricault auch eine Kritik des Kolonialismus, indem er die winkende, kräftigste Person an der Spitze der Pyramide als Schwarzen malt. Aber das Gemälde ist eigentlich eine zeitlose Darstellung von Situationen der Verzweiflung und Ausgeliefertsein des Menschen, von seiner absoluten Machtlosigkeit, die sich hier auf einer Wasserwüste ereignet.
Schiffbruch heute
Daher kann man Vergleiche zu der aktuellen Situation ziehen. Am 27. September meldeten die Medien, dass im Jahr 2016 bereits 3200 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken seien. Man kann sich deren Verzweiflung vor ihrem Tod sicher nur ungefähr ausmalen. Das Meer, das auch Nahrung spendet und das Klima erträglich macht, hat eine verschlingende Kehrseite, die wir im Wohlstand Lebenden nicht mehr wahrnehmen. Wir halten uns diese unheimliche Seite vom Leibe und befahren die Ozeane auf überdimensionierten und stabilisierten aida-Dampfern. Auf deren hohen Aufbauten bewegen sich die Reisenden weit entfernt über den Wellen. So können sie verdrängen, was sich unweit in den schrottreifen Nussschalen abspielt. Das soll kein Vorwurf sein. Wir alle müssen das tagtägliche Elend auf dem Globus möglichst verdrängen, um nicht verrückt zu werden.