Theater mit Jugendlichen

„Surrogate Cities“ in Gießen

Von Ursula Wöll

Das Stadttheater Gießen bezieht 250 Schülerinnen und Schüler in ein Theaterprojekt ein.  Die Szenische Komposition „Surrogate Cities“ von Heiner Gobbels hat am 22. September 2018 Premiere. Hier eine Reportage von den Proben.

Theater mit 250 Jugendlichen

Letzten Montag um 11 Uhr in der Osthalle in Gießen. Die Probe der Szenischen Komposition „Surrogate Cities“ beginnt. Eine Menge Leute vom Stadttheater Giessen sind anwesend, unter anderem Tanztheaterdirektor Tarek Assam, der Regie führt, und der Schauspieler Roman Kurtz, der die Zwischentexte liest. Außerdem anwesend sind gut 250 SchülerInnen der Gesamtschule Gießen-Ost, gestische DarstellerInnen, ohne die gar nichts liefe. Noch summt es in der Halle, in der sonst Sport geboten wird, wie in einem Bienenkorb. Doch nachdem Tarek Assam zweimal durchs Mikro um Ruhe bittet, kehrt konzentrierte Aufmerksamkeit ein. Nicht anwesend sind die Mezzosopranistin und das vielköpfige  Philharmonische Orchester des Theaters, das in der Mitte der Spielfläche platziert sein wird. Noch kommt die Musik von „Surrogate Cities“ vom Band, komponiert 1994 von dem international berühmten Heiner Goebbels. By the way: Seit Juli ist er Georg-Büchner-Seniorprofessor der Gießener Uni.

Die Choreographie macht den Schülerinnen und Schülern sichtbar Spaß. Fotos: Katrina Friese

Es ist nicht die erste Probe und wird bis zur Vorstellung am 22. September nicht die letzte sein. Sie dauert über drei  Stunden und verlangt den SchülerInnen der Stufen 7 und 9 sowie einer Gruppe der Stufe 12 einiges ab. Die jungen KünstlerInnen agieren in Gruppen, mit denen sie Kreise, Linien und andere Configurationen bilden. Ihre choreografischen Vorgaben haben sie bereits ziemlich gut drauf. Texte sind nicht zu lernen, dafür aber die Koordination in der Gruppe, das gemeinsame Spiel. Wenn etwa die Arme ein wenig zeitversetzt geschwungen werden, so muss man genau auf den Nachbarn oder die Nachbarin achten. Ganz nebenbei wachsen so Körperbewusstsein und Musikempfinden –  sicher auch eine lebenslange Liebe zum Theater.

Das Projekt erinnert mich an den Dokumentarfilm „Rhythm is it“, in dem Sir Simon Rattle in Berlin ebenfalls 250 Jugendliche einbezog. Der Film machte damals Furore und erhielt viele Preise. Und nun ein ähnliches Projekt in Gießen, an dem ebenfalls ganz „normale“ Jugendliche partizipieren!  Den Mut dazu brachte das Stadttheater auf, finanziell jedoch war alles nur durch einen Zuschuss des Bundes zu stemmen. Zu bewundern ist aber auch die Gesamtschule Gießen-Ost, weil sie musischen Lernzielen so breiten Raum einräumt. Sie feiert gerade ihr 50jähriges Bestehen, da ist die spektakuläre Kooperation mit dem Theater willkommen. Ihre Projektwoche legte sie so, dass ein Teil der vielen Proben hineinfallen.

In Berlin wählte man die Musik von Strawinskys „Le Sacre du Printemps“,  in Gießen entschied man sich für eine womöglich noch anspruchsvollere Komposition. Heiner Goebbels integriert reale Geräuschaufnahmen einer Stadt wie das Kreischen von Straßenbahnbremsen in seine Musik. Obwohl sie auch rhythmische Strecken, etwa Blues enthält, ist sie für manche zunächst etwas gewöhnungsbedürftig. Sie setzt die oft verwirrende Atmosphäre einer Großstadt in Töne um. „An einem Tag ist das Haus noch da, am anderen ist es weg“, heißt es in den von Roman Kurtz zitierten Textpassagen von Heiner Müller oder Paul Auster. Entsprechend gruppieren die SchülerInnen die vielen weißen Kuben aus Pappkarton öfter um.

Das szenische Konzert „Surrogate Cities“ eroberte alle namhaften Bühnen rund um den Globus und nun auch endlich diejenige von Gießen. Der Komponist selbst ist Gießen verbunden und hat lange Jahre die Kulturlandschaft der Stadt mitgestaltet. Er war Professor für Angewandte Theaterwissenschaft an der Uni und leitete das ZMI (Zentrum für Medien und Interaktivität). Nun, nach seiner Pensionierung, ernannte ihn die Universität zum Georg-Büchner-Seniorprofessor. Der Dichter Büchner studierte bekanntlich einst in Giessen. Er schrieb hier 1834 seinen berühmten „Hessischen Landboten“, in dessen Tradition sich diese Internet-Zeitung „Der Neue Landbote“ verortet.

Der Spielort, eine große Sporthalle, passt zu „Surrogate Cities“ wie der Deckel zum Topf.  Nicht nur wegen der zahlreichen Mitwirkenden, sondern weil er das Ziel des Kooperationsprojektes unterstreicht, Theaterkultur aus dem Elfenbeinturm in den Alltag der Stadt zu bringen. Schade, dass das Stück nur einmal aufgeführt wird, nämlich am  Samstag, dem 22. September um 19.30 Uhr in eben dieser Sporthalle, Karl-Reuter-Weg 3. Der Eintritt kostet 15 Euro, ermäßigt 10 Euro, Karten über das Stadttheater.

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