Störche

Tausend Weißstörche in der Wetterau

Von Klaus Nissen

Kaum zu glauben, dass es vor 35 Jahren überhaupt keine Störche in der Wetterau gab. Heute sind die meterhohen Vögel in jeder Flussaue beim Mäusefangen zu sehen. Die Brutsaison 2023 nähert sich dem Ende. Sie brachte einen Rekord: Mehr Storchenpaare als jemals zuvor haben zwischen Rosbach und Kefenrod ihren Nachwuchs aufgezogen. Der Storchen-Boom ist auch eine Folge des Spanien-Tourismus.

Gut 600 Jungvögel schlüpften aus

Udo Seum hatte in diesem Frühjahr mehr Arbeit als je zuvor. Der 69-Jährige aus Heuchelheim fährt alljährlich alle Plätze mit besetzten Storchennestern an, die ihm Naturfreunde melden. Dort späht er aus, wie viele Jungvögel jedes Brutpaar gerade aufzieht. Ihre Zahl sprengt in diesem Jahr alle bekannten Dimensionen.

Der Jäger muss warten: Den Schießstand bei Lindheim hat eine Storchenfamilie okkupiert. Die beiden schwarzschnäbeligen Jungvögel sind aber bald flügge und fliegen im Herbst mit den Eltern gen Spanien. Da liegt die Hauptursache des aktuellen Storchen-Booms, sagt Vogelschützer Udo Seum. Die Buffet-Reste der vielen Pauschaltouristen landen auf den Deponien. „Deshalb wimmelt es da von Mäusen und Ratten. Und die ernähren unsere Störche.“ Foto: Nissen

Nicht weniger als 205 Storchenfamilien trug der Beauftragte der Hessischen Gesellschaft für Ornithologie und Naturschutz (HGON) in seine Liste ein. „Überall in den Flusstälern sind Nester zu finden“, sagt Seum. Ganze Kolonien aus je einem Dutzend Tieren, beispielsweise bei Stockheim, bei Gronau an der Nidda, in einem Erlenwäldchen an der Wetter.

Alle Masten sind bewohnt

Vermehrt findet man nun auch Storchennester in Bäumen – so wie einst vor dem Verschwinden des letzten Weißstorchs aus der Wetterau anno 1979. Um 1990 ließen sich einzelne Ciconiidae wieder von künstlichen Nistgelegenheiten anlocken. Jetzt sind alle Masten belegt. Seit zwei Jahren stellen die Vogelschützer und der Stromversorger Ovag (der ungern Störche auf seinen Leitungsmasten brüten sieht) keine künstlichen Nester mehr auf.

„Es gibt einfach genug Störche“, meint Wilhelm Fritzges aus Lindheim. Auf den Wiesen an der Nidder zählte er 26 Brutpaare, die in diesem Jahr etwa 60 Jungvögel aufziehen. Sie stehen kurz vor dem Erstflug. Die Jungen unterscheiden sich nur noch in der Größe und im schwarzen Schnabel von ihren Eltern. Sogar in der Gemarkung von Wenings, wo seit Menschengedenken keine Störche brüteten, hat laut Udo Seum ein Paar seine Jungen großgezogen.

Wilhelm Fritzges (82) sorgt seit mehr als 30 Jahren dafür, dass sich die Störche in Lindheim wohl fühlen. Foto: Nissen

Im Durchschnitt bringt laut Seum jedes Storchenpaar drei Junge zur Flugreife. So kann man mit 600 Jungstörchen in der Saison 2023 rechnen. Insgesamt leben bis zum Herbst also tausend Störche im Kreisgebiet. Das ist ein Rekord.

Genauso wie der Bruterfolg zweier Störche im Süden des Bingenheimer Riedes. Sie brüteten dort auf einem Holzmast nicht weniger als fünf Junge aus und zogen sie mit täglich mehreren Kilo Mäusen, Regenwürmern und anderem Kleingetier groß. In vielen anderen Nestern verzeichnet die Liste von Udo Seum jeweils vier Jungstörche. Beispielsweise an der Autobahn-Abfahrt und der Kläranlage Altenstadt, am Rückhaltebecken bei Büches, am Sackteich zwischen Lindheim und Hainchen.

Vier von fünf Störchen sterben im ersten Jahr

Doch es geht auch mal schief. Vier tote Störche entdeckten die Vogelschützer an einem Hochspannungs-Metallgittermast auf der Kuhweide bei Dorheim. Der Waschbär erbeutete laut Seum zwei junge Störche, die auf einem Pappelstumpf am Bahndamm bei Gettenau hockten.

Es werden nicht die einzigen bleiben. Etwa 80 Prozent eines Jahrgangs sterben im ersten Lebensjahr, schätzt Udo Seum. Füchse, Stromschläge oder auch französische Wassertürme werden ihnen zum Verhängnis. In den markanten Trichterbauten habe man schon dutzende tote Störche entdeckt. Offenbar fliegen sie hinein, um zu trinken und können im Schacht dann nicht mehr starten. Wenn die Wassertürme geflutet werden, ertrinken die Störche. Mit Abdeck-Gittern sollen die Großvögel inzwischen vor diesem Schicksal geschützt werden.

Bei Oberau stand jüngst ein apathischer Storch tagelang am Straßenrand. Eine Frau aus Karben alarmierte Wilhelm Fritzges. Die beiden telefonierten stundenlang vergeblich, um medizinische Hilfe zu finden. Tierheime sind nicht für Wildtiere zuständig. Bianca und Steven Hillger aus Niederdorfelden nahmen den Storch schließlich bei sich auf, obwohl sie normalerweise nur gestrandete Singvögel kurieren. Der Storch überforderte auch sie. „Er war schon voller Maden“, erinnert sich Steven Hillger. Man brachte ihn zu der von einem Verein betriebenen Wildtierstation nach Hünfelden bei Bad Camberg – da ist der Storch schließlich gestorben.

Gemeinsam mit drei Artgenossen filzt dieser Adebar eine gemähte Wiese bei Bindsachsen nach Mäusen. Foto: Nissen

Aus der Bevölkerung erreichen sie immer wieder Hilferufe, berichten Wilhelm Fritzges und das Ehepaar Hillger. Nicht nur Störche, auch gestrandete Spatzen oder Jung-Elstern rufen Helfer-Instinkte wach. Oft hat ein benommen auf der Terrasse sitzender Vogel nur ein „Anflugtrauma“ nach der Kollision mit einem Fenster, sagt Steven Hillger. Den Vogel „sollte man so stressarm wie möglich an einen ruhigen, kühlen Ort setzen, damit er sich erholen kann.“

Der Storchenexperte Udo Seum liefert verletzte Störche in die Gießener Uni-Tierklinik ein. Da schauen die Veterinäre, ob der Vogel zu retten ist. Und wenn nicht, wird er eingeschläfert. Nicht alle überleben. „Das ist halt die Natur.“

Neues von Wilma und Wilfried

Das älteste durchgehend bewohnte Storchennest der Wetterau thront auf einem Schornstein des Hofguts Westernacher in Lindheim. Vor drei Jahrzehnten baute dort ein im Hessenpark bei Neu-Anspach geborener Weißstorch sein Heim. Er wurde „Wilhelm“ genannt, weil Wilhelm Fritzges von der Natur- und Vogelschutzgruppe ihn adoptierte und im Winter mit toten Küken über die Runden brachte.

Das Posing vor der Kamera haben auch die heutigen Jungstörche drauf. Der 2023er-Jahrgang auf dem Schornstein des Hofguts Westernacher schnäbelt in die Webkamera der Naturschutzgruppe Lindheim. Foto: Nissen

Zunächst mit Wilhelmine, später mit Wilma zeugte Wilhelm viele Dutzend Nachkommen. Seitdem er im Sommer 2020 spurlos verschwand, lebt dort Wilma mit dem jüngeren Wilfried zusammen. Die unter www.vogelschutz-lindheim.de aufrufbare Kamera lässt die ganze Welt am Familienleben der beiden teilhaben. In diesem Frühjahr hätte sich Wilma beinahe mit einem fremden Storch eingelassen, berichtet Wilhelm Fritzges. Doch dann traf Wilfried ein und vertrieb den Nebenbuhler.

Die ersten Julitage verbrachten die drei Jungvögel von Wilma und Wilfried weitgehend alleine auf dem erst 2022 runderneuerten Schornstein-Nest. Sie sind fast flügge, und die Eltern reduzieren die Fütterung. Nicht weniger als 12962 Kommentare von Storchenguckern aus aller Welt bezeugen auf der Webseite die starke Anteilnahme am Leben dieser Vogelfamilie. Es geht da aber auch um den Storch Gerome, der sich bei Erlangen offenbar an der rechten Hüfte verletzt hat. Doch jetzt geht es ihm wieder besser.

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