Stephan Lamby

Regieren in Zeiten des Krieges

Von Michael Schlag

Das Buch „Ernstfall – Regieren in Zeiten des Krieges“ von Stephan Lamby kann helfen, die vergangenen eineinhalb Jahre zu verstehen. Im Einzelnen erfährt man wenig Neues, man bekommt aber die Abfolge der Ereignisse, die zeitlichen Parallelitäten vor Augen geführt.

Die Abfolge der Ereignisse

Auch wenn man das politische Geschehen Tag für Tag verfolgt, eine gute Zeitung liest, gutes Radio hört, kann einem trotzdem irgendwann die Chronologie entgleitet. Gasumlage, Streckbetrieb, Zeitenwende, Strompreisbremse, alles neue Worte im Ablauf von 2022, alles selbst miterlebt. Aber wie hat das eine das andere nochmal ausgelöst, was folgte darauf aus welchen Gründen und mit wiederum welchen Folgen? Bisweilen sucht man nach Ordnung im zurückliegenden Geschehen der vergangenen anderthalb Jahre, jemand müsste einem das Puzzle der täglichen Informationsfetzen in einem Gesamtbild zusammenfügen? Das Buch „Ernstfall – Regieren in Zeiten des Krieges“ von Stephan Lamby kann dabei helfen. Im Einzelnen erfährt man wenig Neues, man war ja (als Zeitungsleser) dabei. Aber was das Buch vor Augen führt, ist die chronologische Zusammenstellung, die Abfolge der Ereignisse, die zeitlichen Parallelitäten.

Die Bundesregierung war immer noch frisch im Amt, als Russland die Ukraine am 24. Februar 2022 überfiel. Habeck und Lindner vertreten in der Regierung völlig unterschiedliche Parteien, aber man muss anerkennen, schreibt Lamby: „Beide haben dasselbe Ziel: Die Auswirkungen des Krieges auf die deutsche Wirtschaft und Bevölkerung sollen so gering wie möglich bleiben.“ Und dann vier Wochen später, 17. März, die Rede von Wolodimir Selenski im Deutschen Bundestag, hier wie in anderen europäischen Parlamenten im Video zugeschaltet. Er erinnert daran, wovor die osteuropäischen Staaten immer gewarnt hatten, dass Nordstream für Russland immer ein politisches Projekt war, aber Deutschland sei es um „business, business, business“ gegangen. Und dann: Bildschirm schwarz, Selenski weg, keine Aussprache, weiter in der Tagesordnung, in diesem Fall Gratulationen an Abgeordnete zum 60. Geburtstag. Man möchte sich noch heute beim Lesen in den Boden schämen.

Stimmungsbilder aus Regierung und Parlament

Und in dem ganzen entsetzlichen Krisenjahr darf natürlich der Parteienstreit nicht aussetzen. Zeitenwende hin oder her, maßgebend bleibt der Blick auf die eigene Klientel und auf die nächste Wahl. Die SPD: Bei einem Gasembargo würden viele Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen. Die Grünen: Eine Laufzeitverlängerung der letzten Atomkraftwerke würde den Markenkern ihrer Partei beschädigen. Die FDP: Will gar nicht ernsthaft über ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen diskutieren. Und Angela Merkel sagt an einem Abend in Berlin, sie habe ja immer gewarnt, dass Putin Europa zerstören wolle, „er will die Europäische Union zerstören. Weil er sie als Vorstufe zur Nato sieht.“ Das Buch ist nicht gerade regierungskritisch, aber hier fragt Lamby doch: „Und warum hat sie Deutschland dann ihre vielen Kanzlerinnen-Jahre lang in eine immer größere energiewirtschaftliche Abhängigkeit von ihm manövriert?“ Was man erfährt, sind immer wieder Stimmungsbilder aus Regierung und Parlament. Sommer 2022: „Wenn man sich in diesen Tagen auf den Fluren des Bundestages umhört, in den Ampelparteien und in den Ministerien, dann spürt man überall: Angst.“ Angst vor Engpässen bei der Energieversorgung, vor politischen Spannungen in Deutschland. Und der Tod von Michail Gorbatschow am 30. August 2022 – sechs Monate nach Kriegsbeginn – führt noch einmal vor Augen, „wie freundschaftlich die Beziehungen zwischen Bonn beziehungsweise Berlin und Moskau einmal waren. Und wie offen feindselig sie inzwischen sind.“

Noch einmal zurück zum Anfang des Jahres 2022 und zum Anfang des Buchs: 4. Februar, Beginn der olympischen Winterspiele in Peking. Weder Kanzler noch Außenministerin reisen zur Eröffnung, aus Protest gegen die Unterdrückung der Uiguren und der Härte gegen die Demonstrationen in Hongkong. Wertebasierte Außenpolitik eben. Stargast in Peking ist dafür Wladimir Putin. Und was dort tatsächlich passiert, beschreibt Stephan Lamby so: „Der russische und der chinesische Präsident stecken ihre Interessengebiete auf der Weltkarte ab.“ Die New York Times deckt später auf: Dabei wurde auch der Beginn des Krieges abgesprochen. Die Winterspiele gingen mit einer Riesenfeier am 20. Februar zu Ende. Vier Tage später begann der Einmarsch der Russen in die Ukraine.

„Ernstfall – Regieren in Zeiten des Krieges“ von Stephan Lamby, ISBN 978-3-406-80776-3, Erschienen am 24. August 2023, Verlag C. H. Beck, 400 Seiten, Hardcover 26,90 Euro, e-Book 19,99 Euro.

Leseprobe: chbeck.de/lamby-ernstfall

Der Film zum Buch in der ARD-Mediathek: ardmediathek.de

Der Film ist allerdings sturzlangweilig. Die Einordnung der Geschehnisse, die das Buch leistet, gelingt hier überhaupt nicht.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert