„Menschen in Ukraine nicht allein lassen“
von Jörg-Peter Schmidt
Der außergewöhnlich lange Applaus des Publikums im Gießener Hermann-Levi-Saal des Rathauses war ein deutliches Zeichen auch dafür, dass bei der Lesung von Sasha Marianna Salzmann eine unerwartete sensible und auch traurige Situation einfühlsam bewältigt wurde. Als das Literarische Zentrum Gießen (LZG) vor Monaten die in Wolgograd (ehemals Stalingrad) geborene Schriftstellerin und Kuratorin einlud, ihren zeitweise in der ehemaligen Sowjetunion handelnden Roman „Im Menschen muss alles herrlich sein“ vorzustellen, konnte niemand ahnen, dass am Abend der Lesung ein vom russischen Präsidenten Putin entfesselter Irrsinns-Krieg mit tausenden von Todesopfern auf beiden Seiten grade begonnen hatte und jetzt im vollem Gang sein würde.Auch für die rund 70 Zuhörerinnen und Zuhörer in der ausverkauften Veranstaltung, die das LZG und das Kulturamt der Stadt Gießen gemeinsam ausrichteten, ergab sich durch die aktuellen Ereignisse eine nicht vorhersehbare Situation: Einerseits stand ja die Lesung der für den Deutschen Buchpreis 2021 nominierten Erzählung im Mittelpunkt. Anderseits stand die Frage im Raum, was die Schriftstellerin zu Putins Krieg sagen würde, Und dann mussten beide Thematiken einfühlsam miteinander verknüpft werde
Bilder aus dem Kriegsgebiet schmerzen
Dies gelang sowohl der Autorin als auch der Moderatorin Sandra Binnert, die behutsam und im Ton passend gezielt ihre Fragen an Sasha Marianna Salzmann stellte, der man anmerkte: Die furchtbaren Bilder aus Kiew und anderen Städten schmerzen sie in der Seele heftig. Bei Telefonaten mit Ukrainerinnen und Ukrainern hatte sie viel Erschütterndes erfahren.
Von Putins Verhalten nicht überrascht
Ihre Botschaft an diesem Abend lim Tenor lautete: Wichtig für die Menschen in der Ukraine sei es, dass sie das Gefühl haben, nicht allein gelassen zu werden. Auch in Deutschland könne man helfen, beispielsweise mit Spenden oder der direkten Unterstützung für die vielen Geflüchteten. Dass Putin einen Krieg in dieser grauenhaften Dimension anzetteln würde, sei für sie keine Überraschung, unterstrich sie, bevor sie aus ihrem Roman rezitierte. Salzmann, die als Kind mit ihrer Familie aus ihrer bisherigen Heimat nach Deutschland wechselte, verwies auf so manche Äußerung des Präsidenten.
Hommage an Migrantinnen
Zur Lesung: Die Handlung des Buches bewegt sich in mehreren Zeitebenen. Im Mittelpunkt stehen vier Frauen, deren Stärken und Schwächen aufgezeigt werden, vor denen aber Salzmann den sprichwörtlichen Hut zieht, als Hommage vor Frauen, vor Migrantinnen. Es handelt sich einerseits um zwei Frauen aus der ehemaligen Sowjetunion. Auch schreibt die Autorin über die Töchter, die nach dem Zusammensturz des Sowjetsystems in Deutschland leben.
Mehrere Kapitel spielen also in der Sowjetunion oder nach der „Wende“ speziell in Gorlowka, das heute in der Oblast Donezk in der Ukraine liegt. Einer der Hauptdarstellerinnen ist Lena, der man in dem Buch zunächst als Kind begegnet, als sie ein Tasse des beliebten Leningrader Porzellans zerschlägt, das in den vielen Haushalten der Sowjetunion Standard war. Lena begegnet den Leserinnen und Lesern immer wieder: Als Ärztin und dann in Deutschland, zusammen mit ihrer Tochter Edi.
Unvergessene große Hungersnot
Die Schriftstellerin, die Zeitzeugen befragte, berichtete in Gießen über Historisches und Traditionelles. Die Ukraine hat schon früher sehr schwere Zeiten überstehen müssen. So entstand durch die Stalinpolitik eine unvorstellbar große Hungersnot mit Millionen von Todesopfern Anfang der 1930-er Jahre. Der Begriff für diese Zeit lautet Holodomor, was soviel wie Töten durch Hunger bedeutet.
Titel bezieht sich auf Tschechow-Zitat
Sasha Marianna Salzmann erläuterte auch, auf was sich der Titel ihres Buches „Im Menschen muss alles herrlich sein“ bezieht. Es ist ein in ihrem Titel leicht abgewandeltes Zitat aus „Onkel Wanja“ von Anton Tschechow. Es kann so oder so ausgelegt werden, je, nachdem es wie genutzt wird: freundlich oder unfreundlich.
Schriftstellerin macht den Menschen Mut

Was noch angenehm auffiel: Die Schriftstellerin, die gemeinsam mit einem Musiktheater-Kollektiv Projekte für Menschen mit Hörproblematiken initiiert hat, untermalt ihren Vortrag bei Lesungen mit einer wunderbaren Gestik. Man hat den Eindruck: Sie ist eine nachdenkliche Frau, die ihren Humor aber nie verliert. Und die es versteht, auch in schweren Momenten anderen Menschen Mut zu machen. Was grade in dieser Zeit besonders wichtig ist.
Der Roman „Im Menschen muss alles herrlich sein“ ist bei Suhrkamp (Berlin) erschienen, kostet 24 Euro ist auch als Hörbuch erhältlich.
Titelbild: Langen Applaus im ausverkauften Hermann-Levi-Saal gab es für die Autorin Sasha Marianna Salzmann (rechts) und auch die Moderatorin Sandra Binnert. (Fotos: Jörg-Peter Schmidt)