Bewegender Roman über Fallada
von Jörg-Peter Schmidt
In nur wenigen Wochen schrieb Ende 1946 der schwer kranke Hans Fallada während seines Aufenthalts in der Berliner Charité „Jeder stirbt für sich allein“. Oliver Teutsch, Redakteur bei der Frankfurter Rundschau, hat sehr detailliert und mit großer Sorgfalt die Entstehungsgeschichte des fünf Mal verfilmten Buches eines hochbegabten, aber immer wieder physisch und psychisch zerrütteten Autors recherchiert.Fallada weigerte sich lange
Eine der historischen Hauptfiguren des Romans von Oliver Teutsch, Johannes R. Becher (Dichter, Verfasser des Textes der DDR-Nationalhymne), war die treibende Kraft, Fallada auf der Grundlage einer NS-Akte „mit einem antifaschistischen Roman“ zu beauftragen. Der spätere DDR-Minister für Kultur Becher war kurz nach dem Zweiten Weltkrieg) Kulturbund-Präsident in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), berichtet Teutsch in seinem Buch mit dem Titel „Die Akte Klabautermann“, wie die Nazis die Akte nannten: Das Ehepaar Hampel hatte von 1940 bis 1942 in Berlin Postkarten gegen das Nazi-Regime verteilt. Beide wurden denunziert und später hingerichtet.
Becher hatte sich den Schreibauftrag für Rudolf Wilhelm Friedrich Ditzen (Hans Fallada war ein Künstlername) leichter vorgestellt, als sich die Angelegenheit dann entwickelte. Denn der Verfasser von Erfolgsromanen wie „Kleiner Mann was nun“ und „Wolf unter Wölfen“, der oft soziale Probleme beschrieb, hatte keinen Bock, diesen „ersten deutschen antifaschistischen Roman seit dem Zweiten Weltkrieg“ zu verfassen. Er wollte erst Mal Unterhaltungslektüre schreiben. Im Übrigen hatte er einen riesigen Berg voller persönlicher Probleme zu bewältigen, die er nicht in den Griff bekam: Geldmangel und jahrelange Alkohol- und Drogensucht (ebenso wie seine junge Frau Ulla).
Schlimme Schicksale belasten
Oliver Teutsch berichtet im Laufe der nächsten Seiten, wie die jeweiligen Verantwortlichen der SBZ-Kulturszene sich vergeblich bemühen, Fallada zum Schreiben des Romans über die besagte NS-Akte zu animieren. Auch Geld und neue Wohnung mit seiner Ulla motivieren nicht, mit dem Buch zu beginnen, obwohl sich Johannes R. Becher und Rudolf Dietzen menschlich näher zu kommen scheinen: Während einer Autofahrt unterhalten sie sich und stellen Übereinstimmungen fest: Beide sind Autoren, beide haben Selbstmordversuchenzu zweit überlebt: Ditzen verlor dabei einen Freund, Becher seine Geliebte – schlimme Schicksale, verbunden mit Schuldgefühlen, verdrängt oder nicht verdrängt.
Immer wieder eine zweite Chance
Es vergeht immer mehr Zeit, Rudolf Ditzen will das Buch weiterhin nicht schreiben und bekommt von seinen Auftraggebern immer wieder eine neue Chance. So wie er von seinen Mitmenschen im Laufe seines Lebens immer wieder ein zweite Chance erhält: nach Gefängnis- und Klinikaufenthalten, von seinem Verleger Ernst Rowohlt, von seiner ersten Frau Suse, bis er während eines Streits mit Suse auf einen Tisch mit einer Pistole schießt. Fallada übte im Laufe seines Lebens mehrere Berufe aus, unter anderem als Assistent der Landwirtschaftskammer Stettin, aber hundertprozentig erfolgreich war er nur als Schriftsteller.
Er erlebte auch gute Jahre – aber dann zehrten wieder cholerische Ausbrüche und seine Alkohol- und Rauschgiftsucht an ihm – auch in der Zeit nach dem Krieg. Und in diesem katastrophalen Zustand soll er jetzt auch eine NS-Akte zu einem Roman verarbeiten. Damit ist eigentlich nicht mehr zu rechnen.
Als keiner mehr daran glaubt…
Aber von einem Moment auf den anderen setzt er sich an den Schreibtisch und legt los. Oliver Teutsch schreibt: „Am 30. September 1946 begann Ditzen mit seinem Roman über das Arbeiterehepaar aus dem Wedding… Schon nach wenigen Seiten bemerkte Fallada, wie er in Fahrt kam… Fallada schrieb wie immer mit der Hand. Nur so konnte er sich in einer Geschichte verlieren, wie von selbst schreiben, zwanghaft schreiben… Denn Fallada schrieb, als gebe es keinen Morgen…“ Nur 24 Tage brauchte er bis zur Fertigstellung von 550 Druckseiten!
Im Februar 1947 stirbt Rudolf Ditzen, dessen schriftstellerisches Lebenswerk unsterblich ist. „Wer einmal aus dem Blechnapf frisst“, „Der eiserne Gustav“ oder „Der Trinker“ haben an Aktualität nie verloren. In Oliver Teutschs Buch erfährt man viele interessante und wichtige Fakten über diesen widersprüchlichen Menschen. Aber nicht nur über Fallada, sondern auch über die gesellschaftliche und politische Entwicklung vor allem in Ostdeutschland, auch über die deutsche Schriftstellerszene in Ost und West nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Buch ist auf jeden Fall empfehlenswert.
„Die Akte Klabautermann“ ist im Axel-Dielmann-Verlag erschienen, hat 312 Seiten und kostet 20 Euro.