Auf Steinzeit gepolt
Von Michael Schlag
Die Genetik des Menschen hat sich in vielen tausend Jahren nicht wesentlich geändert, evolutionäre Anpassung geht sehr langsam. Sehr schnell dagegen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten die Lebensgewohnheiten in den Wohlstandsgesellschaften verändert – und jetzt passt nichts mehr zusammen. Im Innern noch Jäger und Sammler, der sich körperlich sehr anstrengen musste, um sich karg zu ernähren. Dagegen die heutige Lebenswelt mit maßlosem Energiekonsum bei minimaler Bewegung. Millionen Menschen werden krank davon, sterben vor der Zeit und verursachen hohe Kosten für das Gesundheitssystem. Dabei ließe sich Vieles davon erstaunlich einfach verhindern, hat es doch jeder Einzelne selbst in der Hand, so zu leben wie es die Genetik vorgibt. Das Buch „Masterplan Gesundheit“ schildert plausibel und immer wissenschaftlich belegt, wie wir passend zu unserer genetischen Ausstattung gut und lange leben können. Auch wenn der Titel etwas überzogen klingt – das Buch hält bis zur letzten Seite, was seine Überschrift verspricht.Genetisches Erbe und heutiges Leben
Man gewinnt einen neuen Blick auf die Dinge, das betrifft alle Lebensbereiche, alle Organe, die Rolle der Ernährung und die über allem stehende körperliche Bewegung. Man kann sich das auch selber fragen – wie müssten Ernährung und Bewegung aussehen, damit sie zur genetischen Ausstattung passt? Die hat nämlich nur wenig mit unserem heutigen Lebensstil zu tun. Angefangen mit dem Altern: „Der allmähliche Verlust der Kraft wird als unvermeidlicher Vorgang beschrieben, dabei können wir unsere Vitalität hundert Jahre erhalten“, schreibt Jörg Blech. Gewagtes Wort, aber es geht um die Sicht auf die Dinge: Wenn wir denken, da ist ohnehin nichts zu ändern, dann machen wir auch nichts und das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Die meisten Herz-Kreislauf-Erkrankungen wären aber leicht zu vermeiden oder zumindest um viele Jahre zu verzögern. Das Gleiche zum Gehirn: „Die nachlassende Gedächtnisleistung nehmen wir als normale Folge des Alterns hin, dabei können wir unser Gehirn wirksam davor schützen.“ Das Buch ist aber keine Ratgeber-Literatur, es ist ein reines Wissenschaftsbuch, das Resümee von Jörg Blech aus 25 Jahren Wissenschaftsjournalismus. Und er stellt die Zusammenhänge so plausibel dar – man braucht gar keine Ratschläge, sondern kommt schon selber darauf, was für einen gut ist was ganz offenbar daneben geht.
Körper kann sich regenerieren
Ein Grundsatz, dem man immer wieder in den verschiedensten Zusammenhängen begegnet: „Die Strukturen des Körpers sind nicht starr, sondern sie können sich regenerieren und verjüngen“. Und zwar gerade nicht, indem man den Körper schont, sondern im Gegenteil, indem man ihn fordert und belastet. Denn „die meisten Leiden brechen nur deshalb aus, weil der Körper nicht für die moderne Welt gemacht ist.“ Warum tragen heute so viele Kinder Zahnspangen, wo kommen denn die ganzen schiefen Gebisse her? Die stets gleiche Argumentationskette der Evolutionsmedizin an diesem Beispiel: Kiefer brauchen mechanische Belastung, nur dann werden die Kieferknochen ausreichend wachsen und allen Zähnen Platz bieten. Weiche Nahrung, die uns nie ein kräftiges Kauen abverlangt, lässt Knochen dagegen verkümmern. Man untersuchte das mit Klippschiefern, das sind kleine Pflanzenfresser, denen man teils weiche, teils harte Nahrung gab: die Kiefer der Breifresser blieben kleiner. Das ist aus Sicht der Natur sogar folgerichtig, denn der Körper geht stets wirtschaftlich mit seinen Ressourcen um; eine Fähigkeit, die nicht verlangt wird, muss er nicht aufwändig entwickeln.
Auf Müßiggang nicht eingerichtet
So geht das im Buch durch alle Lebensbereiche, Krankheit für Krankheit, Organ für Organ. Zu welchem Zweck hat sich ein Organ entwickelt – und in welcher Welt muss es heute standhalten? Ein anderes Beispiel: Salz. Der Konsum ist heute doppelt so hoch wie er sein müsste, dennoch verhält sich unser genetisches Gedächtnis, wie es sich vor vielen tausend Jahren einmal bewährt hat: Der Körper des Jägers in der Savanne speichert sein Salz, um den Blutdruck aufrecht zu erhalten und das Regulationssystem will verhindern, dass der Körper dehydriert. „Auf Müßiggang sowie gesalzene Pommes, Salzstangen oder gepökeltes Fleisch ist es jedoch nicht eingerichtet“, schreibt Jörg Blech. Und man sieht die Folgen förmlich vor sich: Blutdruck in die Höhe, umso mehr bei Übergewicht und mangelnder Bewegung. Nichts wirklich Neues, aber man lernt in dem Buch immer wieder, was sind denn die angeborenen Bedürfnisse des Körpers und warum läuft das heute so aus dem Ruder?
Krank durch Bewegungsmangel
Das nächste Thema, die Bewegung, zieht sich durch das ganze Buch, in immer wieder neuen Zusammenhängen. Da gibt es nämlich ein ganz großes Missverständnis. Wir betrachten unseren Körper wie ein Auto, von dem man weiß: Der Motor verschleißt, die Stoßdämpfer leiern aus, die Reifen fahren sich ab, irgendwann ist es Schrott. Beim Körper des Menschen dagegen verhält es sich umgekehrt, denn „die Muskulatur erneuert sich selbst, wenn man sie gebraucht.“ Muskeln verschleißen nicht, sondern werden durch Beanspruchung stärker, Blutgefäße werden elastisch, die zelluläre Müllabfuhr räumt auf. Das alles ist mit Studien weltweit belegt, von Wissenschaftlern aufgeklärt und hier vom Journalisten äußerst kurzweilig dargelegt. Viele der angeblich unausweichlichen Alterskrankheiten sind in Wahrheit mit Bewegungsmangel verknüpft.
Vermeidbare Kosten des Gesundheitssystems
Wo kommt denn der ganze Diabetes Typ 2 her? Auch diese Volkskrankheit zeigt, „wie sehr wir noch auf Steinzeit gepolt sind“. Der Körper tut weiterhin das, was für ihn als Jäger und Sammler das Richtige war. Isst so viel Zucker, wie er kriegen kann und speichert ihn in Leber und Muskeln auf Vorrat – früher wurde der Vorrat aber auch wieder verbraucht. In der Wohlstandsgesellschaft entsteht daraus ein gefährlicher Kreislauf: Man nimmt gewaltige Mengen Zucker auf, die inaktiven Muskeln können dem Blut keinen Zucker mehr entziehen, die Bauchspeicheldrüse produziert immer größere Mengen Insulin. Nun gibt es wirksame Medikamente gegen Diabetes Typ 2 – für Jörg Blech allerdings steht dahinter ein Denkfehler: „Die Antwort auf Krankheiten liegt weniger in der Suche nach pharmakologischen oder chirurgischen Therapien, sondern man sollte am Lebensstil ansetzen.“ Vermutlich wären 70 % der Kosten unseres Gesundheitssystems zu vermeiden, schreibt Blech, „wenn die Leute sich stärker auf die evolutionären Bedürfnisse von Leib und Seele besännen“.
Wir altern nicht chronologisch
„Wir schonen uns zu Tode“, heißt ein anderes Kapitel, nachlassende Kraft nimmt man wieder als unausweichliche Folge des Alters. Ein „fataler Irrtum“, findet Blech, „denn der Körper altert mitnichten chronologisch, sondern biologisch.“ Die Uhr lässt sich zwar nicht langsamer stellen, sehr wohl aber der biologische Abbau in dieser Zeit. Aufwändige und sehr langfristige Studien mit einer großen Zahl von Probanden zeigten, dass der Kraftverlust nicht biologisch vorherbestimmt ist, „sondern man kann seinen Verlauf verzögern und in einem gewissen Umfang umkehren“. Muskeln, Immunsystem, Rücken, Gelenke, Herz, Hirn, das ist alles für ein langes Leben ausgelegt. Auch der Knorpel in den Gelenken könne erstaunlich lange halten, doch er leide darunter, wenn er zu wenig eingesetzt wird.
Couch gefährlicher als Trainingsplatz
Wie viele Leute sterben, während sie sich schonen und wie viele sterben, während sie Sport machen? Na bitte: „Auf der Couch lebt es sich eindeutig gefährlicher als auf dem Trainingsplatz.“ Noch ein Thema von vielen: Der hohe Zuckerkonsum gilt als die Hauptursache der weltweiten Epidemie des krankhaften Übergewichts. In den 60er Jahren wog der durchschnittliche Amerikaner 75 kg, heute sind es 90 kg. Gepaart mit mangelnder Bewegung ist das ist endgültig fatal, denn „Zucker macht niemals satt, vielmehr zwingt er einen gleichsam dazu, immer weiter zu essen“. Dagegen hilft wiederum der Rückblick auf unsere evolutionäre Geschichte: Temporäres Fasten – für den Jäger und Sammler zwangsweise normal – „überführt den Stoffwechsel nicht in einen Ausnahmezustand, sondern in einen gesunden Urzustand.“ Wieviel vom eigenen Schicksal kann man tatsächlich beeinflussen? Wieweit ist man selbst verantwortlich für gesunde Jahre im Alter? Nur 20 % davon sei durch die ererbten Gene vorbestimmt, 30 % durch die Umwelt, in die man hineingeboren wird, aber „den Rest und damit den größten Anteil an seinem medizinischen Schicksal hat jede und jeder selbst in der Hand“.
Was tun, wohin führen alle die Erkenntnisse, was soll man daraus machen? Schon klar: „Unserem Organismus fehlte die Zeit, Strategien gegen die Folgen des Bewegungsmangels zu entwickeln. Allerdings haben wir noch unseren Verstand.“
Jörg Blech
Masterplan Gesundheit
Was Körper und Geist brauchen, um lange jung und fit zu bleiben
Verlag DVA, 320 Seiten, 26,- €
ISBN 978-3-421-07011-1
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