Hinterländer Totentanz
Am letzten Sonntag im Kirchenjahr, diesmal am 22. November 2020, gedenken Christen ihrer Toten. Am Sonntag zuvor ist Volkstrauertag, an dem der gefallenen Soldaten gedacht werden soll. In seinen „Gönnerschen Oden an den Tod“ setzt sich der Dialektdichter- und forscher Kurt Werner Sänger mit dem Tod auseinander – im Hinterländer Dialekt. Es geht um die Kosten der Beerdigung, Krieg und Selbstmord. „Hinalena Duuredaans“ (Hinterländer Totentanz) heißt das Werk im Untertitel, das der Landbote veröffentlicht.20 Euro fürs Läuten der Glocken
Sterben ist teuer, auch im Hinterland: „Duud – wan Döu kimst un ois langst (Tod – wenn Du kommst und uns holst) / Kosts deam oame Man sai Geald (Kostet es dem armen Mann sein Geld) / Beast Döu ois doira als wäis Lewe (Bist Du uns teurer als das Leben) / Nimst ois de lädste Grosche weg (Nimmst uns die letzten Groschen weg) / Met Dia raiwe sich de Geschäftsloire de Hen (Mit Dir reiben sich die Geschäftsleute die Hände) / Fea de Särsch, de Grenze uns Groab (Für die Särge, die Kränze und‘s Grab) / Fean Peana, feas Glokeloire un de Gemee (Für den Pfarrer, für‘s Glockenläuten und die Gemeinde) / Als doas lädste Geschäft, doas Döu beast (Als das letzte Geschäft, das Du bist) / Doas ma oom En nit gebreache kin (Das wir am Ende nicht gebrauchen können)“.
Sänger dokumentiert zu diesem Abschnitt seines Hinterländer Totentanzes das Testament seiner Mutter, das sie handschriftlich auf dem Zettel eines Notizblocks hinterlassen hat. Es ist von erschütternder Nüchternheit: „Arzt verständigen wegen Sterbeurkunde. Mit … Einäscherung besprechen. Bei der Gemeinde Einäscherung beantragen. Mit Pfarrer sprechen wegen Urnenbestattung.“ Fürs Läuten der Glocken sieht sie 20 Euro vor, fürs Orgelspiel bei der Trauerfeier ebenfalls 20 Euro. Kaffee soll es für den Pfarrer, die nächsten Angehörigen, Nachbarn und Freunde geben. „Wenn alle Unkosten bezahlt sind, könnt ihr den Rest aufteilen“, schreibt sie und nennt einen, der etwas mehr bekommen soll „weil er sich um mich gekümmert hat“.
Met Gots Seeje ien Griesch
Sänger hat die Ode ursprünglich für ein Fotoprojekt des Landarztes Rudolf Kraft aus Gönnern geschrieben. Das feierliche Gedicht ist auch eine Auseinandersetzung Sängers mit seiner religiös geprägten Heimat. „Das Hinterland mit seinen Freikirchen gilt als der Bibelgürtel Hessens“, sagt er. Mit Gottes Segen musste sich der kleine Mann im Krieg totschießen lassen: „Duud – wan se weramool e Gesäds mache (Tod – wenn sie wieder einmal ein Gesetz machen) / Met Gots Seeje wera mool ien Griesch zäie (Mit Gottes Segen wieder einmal in den Krieg ziehen) / Un de kleene Man kräits Haleluja gebloose (Und der kleine Mann bekommt‘s Halleluja geblasen) / Feare Amän sisch duutschäise tse lese (Für ein Amen sich totschießen zu lassen) / Beast Döu schu de Uschde, dea de Saase hoart (Bist Du schon der Erste, der die Sense dengelt) / Un dea sai Laischeduch ofhält noom lädste Gebeet (Und der sein Leichentuch aufhält nach dem letzten Gebet) / Wan de Peana noch emool sai Koläkte zeelt (Wenn der Pfarrer noch mal seine Kollekte zählt)“
Wer sich selbst tötet wird nicht ordentlich beerdigt: „Duud – wan mas Lewe läad sai beast de nit do (Tod – wenn wir das Leben leid sind bist du nicht da) / Mire ma ois sealbst imbrenge (Müssen wir uns selbst umbringen) / Merem Schusaberat im Käla (Mit einem Schussapparat im Keller) / Wail de Fra futgelaafe eas – meren Kean (Weil die Frau fortgelaufen ist – mit Kindern) / Dn Bokel fol fo Scholde hu (Den Buckel voll von Schulden haben) / Däs ma sisch im Pods ofhenke mire (Dass man sich im Potz aufhängen muss) … Där ois näad blait als wäi de äjene Duud (Dass uns nichts bleibt als wie der eigene Tod) / Den ma da mool sealbst ie de Haand neame mire (Den wir dann mal selbst in die Hand nehmen müssen) / Wan manen emool sealbst gebreache kin (wir ihn einmal selbst brauchen können) / Da beaste nit do un mia oi Groab (Dann bist du nicht da und wir unser Grab) / Aach noch feahäa sealbst geschäfeln mire (Auch noch vorher selbst schaufeln müssen) / Wail Sealbstmöada foon Frome (Weil Selbstmörder von den Frommen) / Nit odlisch beerdischd wean (Nicht ordentlich beerdigt werden)“
Woher man kommt – und wie

Sänger schreibt im Dialekt seiner Heimat, dem Hinterland. „Oh Treppenwitz der Namensgeschichte: Ausgerechnet Hinterland“, lacht der Sprach- und Kulturwissenschaftler Heinrich Jakob Dingeldein und fährt fort: „Ursprünglich ‚Hinterland‘ nur von der fernen Residenz Darmstadt aus gesehen, heute fest schon Synonym für die andere ‚hintere‘ Hälfte des Landes, die Kehrseite des kraftstrotzenden und menschenbedrohenden ‚Vorderlandes‘ unserer Städte und Ballungsgebiete. Dem hessischen Hinterland zwischen dem Rothaargebirge im Norden und der Industriestadt Wetzlar im Süden, zwischen Wittgenstein und Siegerland im Westen und dem Marburger Land im Osten gilt Sängers Liebe und Kritik.“
Sängers Heimatbegriff stehe nicht für Geruhsamkeit und süßen Frieden. „Sängers Heimat ist die Welt der arbeitenden, schwitzenden, frierenden, hoffenden, zagenden Menschen, der Ort, die Landschaft, in denen sich Menschen lieben, und streiten, sich hassen und versöhnen“, erklärt Dingeldein.
Der Begriff Mundart bezeichne genau, worum es bei Sänger gehe: „Um den von Sprache vollen Mund, um die Art des Sprechens. Sie zeugt von dem, woher man kommt. Und manchmal auch davon, wie“, urteilte der 2017 verstorbene Schriftsteller Peter Härtling:
Hier sind Sängers „Gönnersche Oden an den Tod“ als PDF-Datei https://landbote.info/wp-content/uploads/2020/11/Goennernsche-Oden-an-den-Tod.pdf
Titelbild: Kurt Werner Sänger hat den Friedhof seines neuen Heimatortes Bad Vilbel-Dortelweil fotografiert.