Die Folgen der Ein-Kind-Politik
Über die gesellschaftlichen Folgen der Ein-Kind-Politik in China berichtete Professor Nando Belardi in der Phantastischen Bibliothek in Wetzlar.
Die „kleinen Kaiser“
China und seine Kontraste von Licht und Schatten: Der gebürtige Wetzlarer Professor Nando Belardi (Bergisch Gladbach) kennt das Land sehr gut und kann daher darüber aufgrund eigener Eindrücke spannend berichten. Dies war in der Phantastischen Bibliothek Wetzlar auf Einladung der Volkshochschule (vhs) wieder der Fall. Ein Schwerpunkt seiner Ausführungen: die gesellschaftlichen Folgen der Ein-Kind-Politik. Die etwa 40 Zuhörer erhielten einen interessanten Einblick in das Reich der Mitte durch den Soziologen, der im Rahmen seiner Gastprofessuren 1981 und 1982 sowie 2013 Land und Leute beispielsweise in Hongkong, Canton, Shanghai und Chengdu (in der Ebene des Roten Beckens gelegen) kennen gelernt hat.
Mit der Familie in China gelebt
Sopio Hagel (vhs) stellte zunächst Nando Belardi (verheiratet, drei Kinder) vor, der in Gießen 1973 im Fachbereich Gesellschafts-wissenschaften promoviert und 1992 in Berlin im Fach Erziehungswissenschaften habilitiert hat. Zeitweise lebte er zusammen mit seiner Familie in China, dessen Regierungsform er so wenig schätzt wie die Hinrichtungen. Dafür achtet er umso mehr die Menschen sowie ihre Kultur, Tradition und Geschichte. Wie er resümierte, hat es etwa 100 Millionen Gewaltopfer durch ausländische Interventionen, durch Bürgerkriege, Maoismus, Kulturrevolution und wirtschaftliche Experimente gegeben. Die Chinesen litten zudem oft unter Missernten sowie Naturkatastrophen wie Dammbrüche und Erdbeben. Hinzu kam das Problem der Übervölkerung. Um dem entgegenzuwirken, wurde 1979 die (mittlerweile gelockerte) Ein-Kind-Politik eingeführt. Wie Belardi beobachtet hat, werden diese Einzelkinder von Eltern und Großeltern oft sehr verwöhnt, so dass diese „kleinen Kaiser“ Erwachsene als Autoritätspersonen nicht respektieren. Diese jungen Menschen stehen bereits in der Schule unter gewaltigem Druck: Sie müssen später in ihrem Leben ideell und finanziell für zwei Elternpaare und vier Großeltern aufkommen. Viele der Eltern dieser Kinder sehen sich zunächst selten.
Patnersuche per Plakat
Warum dies so ist, verdeutlichte der Wissenschaftler an einem Beispiel: Der Hauptverdiener, meistens der Vater, ist gezwungen als Wanderarbeiter aus seinem Dorf in die Stadt zu ziehen und geht dort einem anstrengenden, nicht selten schlecht bezahltem Beruf von morgens früh bis abends nach. Die Familie zieht erst nach einigen Jahren mit dem Kind und den Großeltern – meistens in einer engen, kleinen Wohnung in der Stadt – zusammen. An öffentlichen Plätzen wie Parks sieht man manchmal Eltern, die für ihre Kinder auf Plakaten Lebenspartner suchen. Denn viele der erwachsenen Kinder hätten, da sie den ganzen Tag mit Arbeiten beschäftigt sind, keine Zeit, um jemanden kennen zu lernen. Abschließend berichtete der Referent, der für seinen Vortrag langen Applaus bekam, über positive Entwicklungen: Es seien enorme Verbesserungen bei Infrastruktur, Bildung, Sozialem und Gesundheit sowie in der Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln zu verzeichnen. Die jungen Menschen in China seien aufgeschlossener und weltoffener als die Generationen vor ihnen. Zudem gebe es inzwischen einige psychologische Einrichtungen, in denen Einzelpersonen oder Familien ihre Probleme aufarbeiten können. Und es rege sich der Protest vor allem bei der gebildeten Mittelschicht, den Wanderarbeitern und nationalen Minderheiten gegen autoritäre Machtgruppierungen.
Am 3. Dezember 2015 wird Prof. Belardi in der Phantastischen Bibliothek über Kongo (dort erlebte er eine einzigartige 1000 Kilometer lange Flussfahrt auf dem Kongo) berichten.