Kein Bock auf Historie

Schätze hinter rissigen Mauern

Wichtige Akten zur Vergangenheit von etLisa_Gnadl_(Martin_Rulsch)_2013-02-28_2wa 60 Orten liegen in einem verfallenden Gebäude der Büdinger Adelsfamilie Ysenburg. Sie gehören eigentlich dem Land Hessen, legt die Vereinigung der Heimatforscher dar. Doch Wissenschaftsminister Boris Rhein (CDU) winkt ab. „Er will sich offensichtlich nicht gegen die Familie Ysenburg-Büdingen stellen“, empört sich die SPD-Landtagsabgeordnete Lisa Gnadl. (Foto: Martin Rulsch)

Kein Bock auf Historie

Bandhausbüdingen
Das Bandhaus in der Nähe des Ysenburger Schlosses hat ein undichtes Dach und dicke Risse in den Mauern. Hier lagern alte Akten aus der Regierungszeit der Ysenburger. Foto: Klaus Nissen

Die seit dem 13. Jahrhundert in Büdingen regierenden Ysenburger haben bis zu ihrer Entmachtung zentnerweise Regierungsakten angelegt, die immer noch auf dem Schlossgelände lagern. Eine Fundgrube für Historiker – wenn sie die Akten studieren könnten. Viele der alten Papiere seien nach  Gesetzen und Verträgen aus dem frühen 20. Jahrhundert zum Eigentum des Landes Hessen geworden, erinnerte im Frühjahr 2015 die Vereinigung der Heimatforscher in Main-Kinzig und Wetterau. Warum er trotzdem die Akten im maroden „Bandhaus“ verfallen lasse, fragte am 26. Mai die SPD-Landtagsabgeordnete Lisa Gnadl den Hessischen Wissenschaftsminister Boris Rhein.  Nun ist die Antwort da:  Die Rentkammerarchive seien Privateigentum der Familie Ysenburg, beharrte Minister Boris Rhein am 8. Juli . „Eine rechtliche  Handhabung hat das Land nicht, Teile auf eine Stiftung zu übertragen. “

Boris Rhein habe sich  nicht mit dem Thema auseinandergesetzt, schimpft nun die SPD-Politikerin  Gnadl. Er habe einfach nicht zur Kenntnis genommen, „dass die drei Rentkammerarchive eben kein Privatvermögen, sondern von ihrem Begriff her Behörden der drei standesherrlichen Häuser in Büdingen,  Meerholz und Wachtersbach waren“, die es bis 1919 noch gab. „Obwohl der Minister einräumt, dass es sich um bedeutendes Schriftgut für die landesgeschichtliche Forschung handelt, ist er über Gespräche mit den Vertretern des hessischen Adels nicht hinausgekommen.“

Was liegt in Büdingen?

Am Büdinger Wasserschloss stehen zwei uralte, sanierungsbedürftige Häuser voller Regierungsakten. Risse ziehen sich durch die Sandsteinmauern. In den Regalen liegen zum Beispiel Briefe des Reformators Philipp Melanchthon und Originalprotokolle aus Hexenprozessen. In den ysenburgischen Archiven lagern etwa 6000 Akten oder zwei Regalkilometer historischer Dokumente, schätzt der Archivar Klaus-Peter Decker. Die Akten stammen aus gut 500 Regierungsjahren der Grafen und Fürsten zu Ysenburg. Das Gedächtnis von zahlreichen Orten liegt in den Speichern. Es handelt sich um vier Archive aus verschiedenen Linien der Fürstenfamilie.

Brauhausbüdingen
Das Brauhaus in Sichtweite des Schlossturms ist noch einigermaßen in Schuss. Hier sind originale Hexenprozess-Protokolle, Briefe des Reformators Philipp Melanchthon und andere wertvolle Dokumente verschlossen. Foto: Klaus Nissen

Im Brauhaus am Seemenbach gibt es zum Beispiel Briefe von Philipp Melanchthon (1497-1560). Der Freund und Mitstreiter Martin Luthers unterrichtete in Wittenberg die Söhne des Büdinger Grafen. Eine andere Mappe im Brauhaus enthält farbige Modezeichnungen aus dem 16. oder 17. Jahrhundert. Es sind Beschreibungen der ysenburgischen Dienstmann-Uniformen. Andere Akten dokumentieren die Büdinger Hexenprozesse: Auf großen Bögen kreuzten die Peiniger an, ob die jeweilige Frau unter Folter den Beischlaf mit dem Teufel gestanden hat. Oder das Krank-Zaubern ehrbarer Bürger. Allein 1633 wurden in Büdingen 114 Frauen als Hexen verurteilt, darunter die Gattin des Schulrektors Peter Engelhard. Das weiß der Heimathistoriker Volkmar Stein.

Die Geldsorgen der Ysenburger

Der Büdinger Geschichts-Experte war bisher nicht in den ysenburgischen Archiven, um die Büdinger Geschichte zu erforschen. Es ist schwer zugänglich. Die Schlüssel hütet Klaus-Peter Decker. Der pensionierte Historiker war einst angestellter Archivar der Familie zu Ysenburg und Büdingen. Später verlor er seinen Arbeitsplatz. Die Ysenburger hatten Geldsorgen. Sie mussten ihr Schloss und große Teile ihres Besitzes verkaufen.

Inzwischen geht Klaus-Peter Decker wieder einmal pro Woche ins Archiv. Die alten Akten verwaltet Decker als Mini-Jobber und Angestellter der „Versorgungsstiftung Ysenburg-Büdingen“, der das ältere der vier Archive gehört. Beim Sortieren der Aktenberge „finde ich immer wieder unglaubliche Dinge“, so Decker. Er lasse auch mal Geschichts-Studenten herein, die einen Forschungsauftrag haben. Die Obhut hat eine „Versorgungsstiftung“, geleitet von Casimir zu Ysenburg und Büdingen.

Alte Akten lagern auch im besonders baufällig wirkenden Bandhaus Am Hain. In diesem ehemaligen Kelterhaus aus dem 16. Jahrhundert sind laut Decker Papiere gelagert, die die Familie Ysenburg als Privatbesitz reklamiere. Decker lässt Presseleute nicht hinein.  Der Stiftungsvorsitzende Casimir zu Ysenburg reagiert nicht auf die Anfrage zum Zustand des Archivs. Der Autor dieser Zeilen konnte freilich dicke, verstaubte Aktenbündel  von außen hinter einem Fenster des baufälligen Bandhauses sehen. Ysenburgakten

 

Teile der Regierungsakten gehören dem Land Hessen, sagt Christian Vogel Das Land müsse sie endlich übernehmen, fordert der Vorsitzende der Vereinigung für Heimatforschung in Vogelsberg, Wetterau und Kinzigtal. Und für  alle Archiv-Teile müsse das Land den gesetzlich garantierten Zugang für Forscher durchsetzen. „Die vier Archive sind vollkommen unübersichtlich“, klagt Vogel. „Zu den Rentkammerarchiven hat niemand Zugang, obwohl da zum Beispiel die Überlieferung der Stadt Büdingen aus der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg bis etwa 1830 liegt.“

Um das Eigentumsrecht des Landes zu beweisen und die Rechtslage für das gesamte Archiv zu klären, ließ Vogel ein 66seitiges Buch drucken. Darin präsentiert er Gesetzestexte und Verträge aus den 1920er Jahren. Sie sollen auch den Staatsbesitz an anderen Adels-Archiven belegen – zum Beispiel dem der Stolberger Grafen.

Doch Wissenschaftsminister Boris Rhein (CDU) zeigt kein Interesse an diesem historischen Erbe. Er überlässt sie der von Casimir Prinz zu Ysenburg und Büdingen kontrollierten Versorgungsstiftung in den alten Gemäuern. RheinsVorgängerin Eva Kühne-Hörmann (CDU) teilte vor zwei Jahren mit, sie betrachte die Akten der drei jüngeren Archive als ysenburgischen Besitz. Casimirs Vater Wolfgang Ernst zu Ysenburg und Büdingen habe ihr zugesagt, dass er die Nutzung des Archivs durch Forscher „im Rahmen seiner Möglichkeiten“ gestatten werde. Das Hessische Landesarchiv in Darmstadt hat also keine Handhabe die Akten zu übernehmen. An dieser Sachlage habe sich nichts geändert, so Rheins Pressesprecher Mark Kohlbecher auf Anfrage.

Für die bessere Unterbringung und Auswertung der alten Akten wäre das Darmstädter Staatsarchiv zuständig. Es hat auch früher schon Adels-Archive übernommen – zum Beispiel aus den Häusern Solms-Rödelheim, Riedesel und Schlitz-von Görtz. Für das riesige Ysenburger-Archiv wäre in Darmstadt kein Platz, lässt der stellvertretende Dienststellenleiter Klaus-Dieter Rack durchblicken. Es habe vor Jahren Verhandlungen gegeben, das Archiv in Büdingen besser und zugänglicher unterzubringen. Sie scheiterten.

 Lisa Gnadl ist unzufrieden

Die SPD-Landtagsabgeordnete Lisa Gnadl macht sich Sorgen um die Akten in den alten Häusern. „Ich finde es extrem unbefriedigend, dass nicht jeder Heimatforscher hinein darf.“ Gnadl hatte schon  2012 vergeblich versucht, die Landesregierung für das Archiv zu interessieren.

Die Geschichte der Ysenburger

Die Grafen von Isenburg stammen aus der Gegend von Neuwied am Rhein. Die weit verzweigte Familie besaß große Ländereien und übernahm nach 1240 auch die Herrschaft in Büdingen und Offenbach. Im 18. Jahrhundert ernannte sie der Kaiser zu Fürsten von Ysenburg. Noch heute sitzen Nachfahren im Wasserschloss aus dem 11. Jahrhundert.

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