Industriekultur 2

Schwerindustrie ohne Denkmäler

von Ursula Wöllbuderus3

Wetzlar war einmal Sitz der Schwerindustrie. Die Hochöfen der Buderus-Sophienhütte sind lange abgerissen, Buderus ging an BoschThermotechnik. Nun, am 2. August, zwischen 6 und 7 Uhr wird auch der 65 Meter hohe Wärmetauscher des Zementwerks umgelegt. Danach sollen noch zwei sogar 80 Meter hohe Silotürme gesprengt werden, so dass die einst eine ganze Region prägende Industriekultur nur noch auf Fotos existiert. Auf der Industriebrache wird eine Ikea-Filiale mit Parkflächen entstehen.

Industrie prägte die Region

Wetzlar vermarktet sich bisher als Goethestadt. Im Jahr 1772 weilte der junge Goethe hier für mehrere Monate, weniger als Praktikant im Reichskammergericht, dafür öfter im heutigen ‚Lotte-Haus‘. Auch als Sitz der optischen Industrie preist sich Wetzlar zu Recht. Es ist eine saubere Industrie, Herr Barnack im weißen Kittel erfand hier einst die Leica, deren Rollfilm die Plattenkamera ablöste. Die Leitz-Werke grenzen direkt an die pittoreske Altstadt, die sich fachwerkgeschmückt um den Dom schart. Oberhalb des Werkes thront die Villa des Firmengründers, soweit hat alles seine schöne Ordnung.

Geprägt wurde die Region jedoch einmal durch die einst ansässige Schwerindustrie. Die als hässlich verachteten Großanlagen von Buderus konzentrierten sich auf das Gebiet jenseits des Bahnhofs im ärmlichen Ortsteil Niedergirmes, in dem später auch viele ‚Gastarbeiter‘ -Familien Wohnung fanden. Die nahe Eisenbahn ließ das Werk aufblühen, denn die Güterzüge schafften Kohle oder Koks aus dem Ruhrgebiet heran und nahmen Erz dorthin mit zurück. Das Eisenerz, das auch Buderus in seinen Hochöfen verarbeitete, lag praktisch vor dem Werkstor. Wurde es früher mit Ochsenfuhrwerken herangeschafft, so baute man später zwei kilometerlange Seilbahnen zwischen Gruben und Hochöfen. Deren Gichtgas wurde zu Heizzwecken genutzt, und die Schlacke wurde dem Zement beigemischt. Das Zementwerk übernahm im Jahr 2002 die Firma HeidelbergZement, die es 2010 stillegte.

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Das Zementwerk vor den Abbrucharbeiten. (Screenshot: Rottenplaces/Bing)

Blühende Buderus-Zeiten

In blühenden Zeiten beschäftigte Buderus 6000 Malocher, dazu eine Menge Angestellte in feinem Zwirn. Die Arbeiter kamen mit Fahrrad, Zug oder per Pedes aus der Region und bestellten dort nach einem langen Arbeitstag zuhause noch ihren kleinen Acker. Rainer Haus als Chronist des Werkes präsentiert  eine kleine Ausstellung mit Fotos der Werksanlagen, wie sie 1913 aussahen. Der Fotograf Max Spalke hatte wohl eher einen dokumentarischen denn einen künstlerischen Anspruch. Zumindest, wenn man seine Aufnahmen mit den weltberühmten von Bernd und Hilla Becher vergleicht. Bernd Becher wuchs in Siegen auf, das langsame Verschwinden der Schwerindustrie auch dort brachte ihn darauf, Industriearchitektur zu fotografieren. Mit seiner Frau Hilla fuhr er zu den meist im Ruhrgebiet gelegenen Objekten: Hochöfen, Gasometern oder Wassertürmen. Die beiden bevorzugten nebliges Wetter, so dass der gleichmäßige Hintergrund die geheimnisvollen Anlagestrukturen betont. Auch wenn dem Laien deren Funktionieren rätselhaft bleibt, erkennt er doch deren spezifische Ästhetik.

Industriearchitektur salonfähig

Seitdem Bernd und Hilla Becher die Industriearchitektur salonfähig machten, ändert sich die Sichtweise langsam. Man erkennt nicht nur ihre spezifische Ästhetik, sondern auch ihren prägenden Einfluss auf das Leben einer ganzen Region. Vor einem Abriss überlegte man nun etwa, wie man die historischen Ungetüme umnutzen könnte. Die ‚Route der Industriekultur Rhein-Main‘ entstand, es gibt Besichtigungen von Eisenbahn-Viadukten (siehe Landbote-Artikel vom 15. Juli). In Wetzlar jedoch steht als Besichtigung eine Sprengung an. Frühaufsteher sollten am 2. August auf einer nahen Anhöhe dem Trauerspiel beiwohnen. Das 65 Meter hohe historische Gebäude wird seitwärts umgelegt, wobei viele Staubwolken entstehen.

Anschließend könnte man die Fotoausstellung „In Licht gegossen. buderus2Industrie-Fotografie bei Buderus in Wetzlar 1913″ im ‚Viseum/Stadt- und Industriemuseum‘ in der Lottestraße besuchen, die bis zum 16. August von 10 – 13 und 14 – 17 Uhr (außer montags) geöffnet ist. Leider zeigen die historischen Aufnahmen nur die verwirrende Architektur der Anlagen, die schwere Arbeit, etwa am Hochofen, muss man sich hinzudenken. Noch andere Gedanken kommen einem vor den papierenen Zeitzeugen: Ob Wetzlar mit seiner rigorosen Abrißstrategie einen glücklichen Weg wählte? Schließlich gab die Schwerindustrie der Stadt und ihrem Umland einst über Generationen eine Identität.

4 Gedanken zu „Industriekultur 2“

  1. Sehr geehrte Frau Wöll,
    vielen Dank für diesen sehr informativen Artikel, in dem Sie sehr gut deutlich gemacht haben wie wichtig und unverzichtbar die Schwerindustrie für Wetzlar war . Als zuständige Dezernentin für die Museen bin ich sehr froh, dass wir mit der Ausstellung „In Licht gegossen“ an die große Bedeutung der Schwerindustrie erinnern können.
    Mein ausdrücklicher Dank geht auch an Herrn Dr. Haus, der diese Ausstellung ermöglicht hat.

  2. Sehr geehrte Frau Wöll, Ihr Hinweis auf die Bedeutung der Schwerindustrie für Wetzlar und Umland ist ebenso richtig wie wertvoll. Verkürzt ist dabei allerdings die von Ihnen gewählte historische Perspektive. Wetzlar ist auch heute noch Standort innovativer und zukunftsorientierter Schwerindustrie – neben der vitalen Optikbranche. Die Niederlegung von architektonischen Zeugen der Vergangenheit mag man bedauern, darf aber nicht den Blick verstellen auf die unmittelbar benachbarte „Industrielandschaft“, in der mit großen Investitionen an der erfolgreichen Zukunft dieser Branche in Wetzlar gebaut wird. Im 150sten Jubiläumsjahr der IHK Lahn-Dill ist es uns ein Anliegen, die breite Palette unterschiedlichster Industrien nicht als Schatz der Vergangenheit zu begreifen, sondern als Chance.
    Freundliche Grüße

    Andreas Tielmann

  3. Nachtrag vom 22. Juli 2015, als Chronik eines angekündigten Todes:
    Der 65 m hohe Wärmetauscher erhält eine Gnadenfrist, seine für den 2. August vorgesehene Sprengung wurde auf ein offenes Datum verschoben. Grund ist nicht etwa mein nostalgischer Artikel, sondern der kürzliche Fund einer Fliegerbombe im Bauschutt nahebei. Diese Halde muss erst auf weitere Bomben untersucht werden, bevor „Krater-Edi“, der Sprengmeister der bayrischen Firma Eduard Reisch Hand anlegt. Er hatte auch den 115 m hohen AfE-Turm der Frankfurter Universität gesprengt.
    Armer Wärmetauscher, es bleibt Dir letztendlich versagt, als Industrie-Denkmal unter Denkmalschutz gestellt zu werden. Du warst eine markante Landmarke weithin, das Herz blutete mir, als ich Dich heute nochmals aus 7 km Entfernung von der Straße Biebertal nach Waldgirmes her stehen sah.
    Es hätte Ikea gut angestanden, den Turm mit etwas Fantasie in seinen Neubau zu integrieren.

  4. Leider ist die Darstellung der aktuellen Wetzlarer „Schwerindustrie“ ein wenig kurz gegriffen. Zwar gibt es keine Hochöfen mehr für die Verhüttung von Eisenerzen, dafür gibt es mit der Buderus Edelstahl GmbH ein Stahlwerk das nach wie vor mit rund 1500 Mitarbeitern Stahl in unterschiedlichsten Güten herstellt und zu diversen Produkten verarbeitet.

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