Frankfurter Institut für Sozialforschung

Scheinriese Adornosperrgut

Von Bruno Rieb

Der große kritische Theoretiker Adorno wird immer kleiner, je näher er kommt. So stellt Thomas von Freyberg den bedeutenden Philosophen und Kulturkritiker in seinem Buch „Sperrgut“ dar. Freyberg zeichnet in seinem Werk die Geschichte des Frankfurter Instituts für Sozialforschung von 1969 bis 1999 nach, also die Zeit nach Adorno.

Ein intimer Kenner

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Thomas von Freyberg

Es gibt kaum einen, der die Geschichte des Frankfurter Sozialforschungs-Instituts in dieser Zeit besser kennt als Thomas von Freyberg, denn er war in diesen gut drei Jahrzehnten dort Wissenschaftlicher Mitarbeiter. Der Titel „Sperrgut“ trifft das Buch gut, denn es ist ein wahrlich sperriges Werk, nicht nur weil es 612 Seiten dick, 23,5 mal 15,5 Zentimeter groß und über ein Kilo schwer ist. Akribisch, manchmal etwas zu detailverliebt – etwa wenn er über Seiten hinweg die Forschungsprojekte des jeweiligen Zeitabschnitts auflistet -, zeichnet Freyberg die Institutsgeschichte jener Jahre nach. Zum Glück lässt er dabei viel Autobiographisches einfließen. Das tut dem Buch gut. Das meint auch der Adorno-Schüler Oskar Negt, der das Geleitwort verfasst hat. „Es sind Erfahrungen von Thomas von Freyberg, über die er berichtet und diese persönlichen Erfahrungen verleihen der Studie eine ungewöhnliche Lebendigkeit, lesbar wie ein Roman.“ Zumindest über weite Strecken.

Freyberg hatte Theologie studiert, sein 1. Staatsexamen hinter sich, war Vikar in Ludwigsburg – und schmiss im Sommer 1967 die theologische Karriere zu Gunsten einer Sozialwissenschaftlichen. „Also irgendwann, ich nehme mal an im Herbst 1967, kam ich in die Myliusstraße, wo damals das Soziologische Seminar untergebracht war. Es war zwar die Zeit der ersten Zuckungen der antiautoritären Bewegung, der Seiffert-sche Kinderladen war gerade eröffnet worden und ich hatte dort für einen Tag in der Woche als Bezugsperson ein wenig Arbeit und einen Ort aufregender Debatten“, erzählt er.

Eher daneben als dahinter

Er stürzt sich in den Strudel der Revolte, schließt sich der Frankfurter-Sponti-Organisation „Revolutionärer Kampf“ (RK) an, ist dabei, als versucht wird, das Generalkonsulat der USA zu besetzen, und geht ins Opel-Werk, um dort den revolutionären Kampf aufzunehmen. Aber: „Ob im Seiffert’schen Kinderladen oder auf Teach-inns oder Demonstrationen, ob später im Revolutionären Kampf bei Opel oder bei den Häuserkämpfen im Westend: Dieses Gefühl, nicht eigentlich dazu zu gehören, eher daneben als dahinter zu stehen, dieser stets mehr oder weniger spürbare innere Vorbehalt, der sich nicht nur aus meinen Zweifeln an den gewünschten Zielen speiste, wurde ich nicht wirklich los.“

In einer Vorlesung Adornos war er nie gewesen; er hat die Texte des Philosophen lieber gelesen, musste manche Sätze oder Absätze mehrfach lesen, um sie zu verstehen. Adorno starb am 6. August 1968. Nach seinem Tod begann „die Frankfurter Schule zum Mythos zu werden und Adorno zu einem der ‚großen Söhne‘ der Stadt, an dem sich immer weniger die Geister schieden. Das Institut für Sozialforschung wurde, spätestens nach seinem 75-Jährigen Jubiläum, zur kollektiven Ware des Kulturbetriebs, zum Sahnehäubchen der Kulturstadt Frankfurt und zum weichen Standortfaktor von Stadt und Land. Ein Denkmal für Adorno – und Adorno als Denkmal“!

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Scheinriese Adorno

Als Freyberg seinen Kindern Jahre später aus Michael Endes Buch „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ vorliest, begegnet ihm Adorno wieder – als der Scheinriese Tur Tur, der von sich sagt: „Je weiter ich entfernt bin, desto größer sehe ich aus. Und je näher ich komme, desto mehr erkennt man meine wirkliche Gestalt.“ Ende findet in seinem Buch eine nützliche Verwendung für Tur Tur: Als Leuchtturm für Lummerland. Für Freyberg ist der Scheinriese Adorno der Leuchtturm des Frankfurter Instituts für Sozialforschung.

Die Konflikte im Institut für Sozialforschung

Einen aufreibenden Kampf gegen finanzielle Abhängigkeit und für freie Forschung hat das Institut in den Jahrzehnten nach Adornos Tod auszufechten. Freyberg sieht es in dieser Zeit am besten durch den Geschäftsführenden Direktor Gerhard Brandt vertreten, „der sehr weitgehend ‚unsere‘ Vorstellungen von kritischer wissenschaftlicher Arbeit mit emanzipatorischen politischen Intentionen teilte, der selbst starke Interessen an empirischer Forschung und der Weiterentwicklung der Kritischen Theorie hatte und der vor allem den notwendigen Zusammenhang zu selbstbestimmter, unabhängiger kritischer Forschung und internen demokratischen Arbeitsstrukturen und Diskussionsbedingungen anerkannt und zu respektieren bereit war.“

Brandt verließ nach einem „zermürbenden Kleinkrieg“ 1984 das Institut und nahm sich kurz darauf das Leben. Freyberg: „Meine traurige Frage damals und heute noch: „Warum bloß hat Brandt sich das angetan!? Und damit meinte ich nicht nur – und auch nicht vor allem – seinen Selbstmord, sondern die Kette von Kränkungen und Entwertungen, von denen ich nur wenige miterlebt hatte.“

„Sperrgut“ ist auch eine Reise zurück in die Sozialgeschichte Frankfurts, zur 68er-Bewegung, zum Häuserkampf, zur Ausländerfeindlichkeit im Amt für Abfallwirtschaft, zur Sozialpolitischen Offensive Frankfurt. Zur Gründung der Partei „Die Grünen“ im Jahr1980 schreibt Freyberg: „Am Anfang des Jahres gründete sich ein Verein, der in weniger als 20 Jahren mit dem ganzen linken Rest endgültig aufräumen wird – zumindest in den eigenen Reihen.“

Leider hat das Buch kein Register, es wäre damit weniger sperrig und ein geschmeidiges Nachschlagewerk. Unter dem Stichwort „Dutschke, Rudi“ würde man dann zum Beispiel finden, dass das Frankfurter Institut gemeinsam mit befreundeten Instituten in Göttingen, München und Dortmund versucht hat, dem Studentenführer ein Forschungsprojekt über einen Vergleich der Arbeitsverfassungen der BRD, der DDR und der UdSSR zu verschaffen – was nicht gelungen ist.

Thomas von Freyberg: „Sperrgut – Zur Geschichte des Frankfurter Instituts für Sozialforschung zwischen 1969 und 1999“, Geleitwort von Oskar Negt, 612 Seiten, Paperback mit Fadenheftung, 39,90 Euro, ISBN 978-3-95558-163-3

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