… von Corinna Willführ
Der Landbote gibt empfehlungen für Geschenke. Heute stellt Landbote-Autorin Corinna Willführ Bücher von Robert Seethaler und Ryan Gattis vor.
Robert Seethaler: „Ein ganzes Leben“
Ein Satz wie ein Sog: „An einem Februarmorgen des Jahres neunzehnhundertdreiundreißig hob Andreas Egger den sterbenden Ziegenhirten Johannes Kalischka, der von den Talbewohnern nur der Hörnerjohannes gerufen wurde, von seinem starkdurchfeuchteten und etwas säuerlich riechenden Strohsack, um ihn über den drei Kilometer langen und unter einer dicken Schneeschicht begrabenen Bergfried ins Dorf hinunterzutragen. Ein Satz, wie aus der Zeit gefallen, wie der Roman „Ein ganzes Leben“ von Robert Seethaler, Jahrgang 1966, geboren in Wien.
Denn kaum vorstellbar, dass es einen wie den Andreas Egger heute noch geben könnte. Einen, der auf einer Wiese schläft und unter dem Sternenhimmel an seine Zukunft denkt, „die sich so unendlich weit vor ihm ausbreitete, gerade weil er nichts von ihr erwartete.“ Ein Bergbub ist er, ein menschenscheuer. Behutsam lernt er die Liebe kennen zu Marie „Es war der schönste Name der Welt“. Romantischer Schmuh? Mitnichten.
Denn „Das ganze Leben“ von Andreas Egger bleibt nicht heil. Er verliert seine Liebe, wie er schon im russischen Woroschilowgrad den Helmut Moidaschl hat sterben sehen. Den Ersten in einer langen Reihe. „Es dauerte fast sechs weitere Jahre bis Eggers Zeit in Russland zu Ende ging“. Nach Kriegsende ist der Egger zurück in seiner Heimat. Heimisch wird er dort nicht mehr. Er führt Touristen durch die Berge und bleibt doch ein Einsamer bis zum Schlusssatz „Es ist noch nicht so weit“, sagte er leise und der Winter legte sich übers Tal.“
Schad‘ ist‘s, dass es den Andreas Egger so nicht gegeben hat. Und traurig-schön, dass man ihn im Roman von Robert Seethaler kennenlernen kann.
Robert Seethaler: „Ein ganzes Leben“, Goldmann-Verlag, 189 Seiten, 9,99 Euro.
Ryan Gattis: „In den Straßen die Wut“
Der 29. April 1992 ist kein Datum, das in die Weltgeschichte einging. Schon gar nicht die Uhrzeit 15.15 Uhr. Aber genau zu dieser Zeit wurden in Los Angeles Polizeibeamte von dem Vorwurf freigesprochen, „übertriebene Gewaltanwendung bei der Überwältigung des Bürgers Rodney King“ angewendet zu haben. Die Polizeibeamten hatten eine weiße Hautfarbe, Rodney King eine schwarze. Nicht einmal zwei Stunden später begannen die Unruhen in Los Angeles. Sie währten sechs Tage und erbrachten im Mai desselben Jahres die Bilanz von mehr als 10.000 Verhaftungen, über 11.000 Feuern, einem Milliardenschaden – und am schwerwiegendsten über 2383 Verletzte.
„Sourced Fiction“ nennt Ryan Gattis das, was er in seinem Thriller „In den Straßen der Wut“ beschreibt. Also eine Handlung, die auf realer Recherche basiert. Die Freigabe der Quellen indes könnte – wie es in vielen Fälle für seine Protagonisten schon war: tödlich sein. Selten trifft eine Aussage auf dem Cover so zu wie für dieses Buch „Ein Roman wie ein Tarantino-Film, ein Gewaltexzess, ein Experiment, ein Buch ohne Vorbild.“ Also nichts für zarte Gemüter, auch nichts für jene, die sich als Krimi-Leser gerne betulichen Ermittlern der Provinz widmen. Nicht allein, weil er am Anfang mit einem sadistischen Mord aus der Sicht des Opfers geschildert wird. Ryan Gattis Lektüre ist kein Krimi, den die Mimi zum Einschlafen mit ins Bett nimmt – er ist der Bericht eines Schriftstellers über den Zustand seines Landes im Ausnahmezustand von 1992. Seine Schilderungen sind grausam, weil sie so wirklich sind. Und beängstigend, bedrohlich, weil man beginnt, sie sich unter einem US-Präsidenten Donald Trump als erneut wahr vorzustellen.
Ryan Gattis, „In den Straßen die Wut“, 525 Seiten, Rowohlt-Polaris, 16,99 Euro