Der Weichensteller ist tot
Ein Nachruf von Klaus Nissen
Im Online-Lexikon „Wikipedia“ steht nur ein kurzer Aufsatz über Gerhard Becker. Das wird dem Mann aus vor-digitalen Zeiten nicht gerecht. Denn der Handwerker-Sohn aus Nidda hat bis heute nachwirkend Weichen für die Gestaltung der Lebensverhältnisse in Nidda, der Wetterau und ganz Hessen gestellt. Gerhard Becker ist nach langer Krankheit am 23. Juni 2017 im Alter von 75 Jahren gestorben.
Gerhard Becker
Ein Leben als einflussreicher Politiker war dem Kriegskind nicht in die Wiege gelegt, als es 1942 in der Niddaer Kernstadt das Licht der Welt erblickte. Gerhard Becker machte in den Fünfzigerjahren eine Elektrikerlehre, arbeitete dann bei der Baufirma Lupp, später als Kolonnenführer beim kommunalen Stromversorger Ovag. In der Freizeit betätigte sich der schmale, mittelgroße Mann mit der weichen Stimme als Chorsänger. Dann kam die Politik hinzu. Der „Sängerkranz“-Vorsitzende wurde 1969 in der beginnenden Willy-Brandt-Euphorie Mitglied der SPD.
Drei Jahre später wählten ihn die Niddaer 1972 ins Stadtparlament – gerade als das Landstädtchen per Gebietsreform auf Wunsch der Landesregierung mehr als 20 Stadtteile eingemeindete. Da gab es viele Rivalitäten und Verteilungskonflikte unter den nun zur Kooperation verurteilten Lokalpolitikern. Gerhard Becker hat diese Zusammenarbeit moderiert, erzählt der spätere Erste Stadtrat Georg Wegner. Erfolgreich. 1974 wurde Becker zum Chef des größten Wetterauer SPD-Ortsvereins gewählt – und sorgte dafür, dass auf der Kandidatenliste seiner Partei für das Stadtparlament fortan stets aus jedem Stadtteil ein Bewerber für die aussichtsreichen Plätze nominiert war.
„Gerhard hat die Schäfchen eingesammelt“, sagt Rolf Gnadl. Der heute Ovag-Vorstand war 18 Jahre lang Stellvertreter des seit 1977 amtierenden SPD-Unterbezirksvorsitzenden Gerhard Becker. Es ging mehrmals darum, auf Kreisebene grundlegende Kursentscheidungen zu fällen und durchzusetzen. „Für meine Einsetzung als Landrat war er damals der wesentliche Drahtzieher“, so Gnadl heute.
Er organisierte Ämterwechsel
Becker machte sich notfalls auch unbeliebt, wenn er Erbhöfe beschnitt, um talentierten jungen Leuten wichtige Ämter zu verschaffen. So organisierte er die Ablösung des langjährigen Wetterauer Bundestagsabgeordneten Georg Schlaga durch die junge Dorle Marx. Und als der Glauburger Wilhelm Reichert sich dem Rentenalter näherte und trotzdem nicht so recht sein SPD-Landtagsmandat hergeben wollte, kandidierte Becker selbst. Kaum jemand außer Reichert selbst nahm ihm das übel, zumal der jahrelang auch als hauptamtlicher Kreisvorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes ein ansehnliches Gehalt mit Rentenansprüchen bezogen hatte. 1987 rückte Gerhard Becker in den Landtag ein und wirkte dort bis 2008. Vier Jahre lang war er stellvertretender Vorsitzender der Fraktion. Von 2003 bis 2008 war er auch Vize-Chef im wichtigen Hauptausschuss des Landtages. So konnte Becker ausgiebig sein Talent nutzen, politische Mehrheiten für wichtige Projekte zu organisieren. Der heutige Oppositionschef Thorsten Schäfer-Gümbel sieht Becker als seinen Mentor: Verloren habe man einen „Kollegen und Genossen, der sich stets integer, zuverlässig und leidenschaftlich für die Belange der Menschen einsetzte.“.
Das war oft schwierig. Gerhard Becker folgte eher dem Machbaren als Visionen. Als junger Landrat sei er von Becker in eine Fortsetzung der ungeliebten rot-grünen Koalition gedrängt worden, bekennt Rolf Gnadl heute. Im Jahr 1993 dann, als die Wahlergebnisse das nicht mehr möglich machten, schmiedete Gerhard Becker gemeinsam mit dem heutigen Landtagspräsidenten Norbert Kartmann das erste Wetterauer Kreis-Bündnis von SPD und CDU. Eigentlich ist Becker nach Gnadls Einschätzung „linksliberal, eher sogar sozialistisch“ orientiert gewesen. Für eine gesunde Umwelt, für eine gerechte Verteilung der Einkommen, gegen Atomenergie und für eine als Bürger-Armee wirkende Bundeswehr.
Machtprobe mit Puttrich
Besonders wichtig war ihm, dass Politik funktioniert. Notfalls mit dem politischen Gegner. Becker glaubte fest daran, dass man Disziplin, Durchsetzungskraft und absolute Verlässlichkeit braucht. Zur Disziplin hielt er in seiner Zeit als Parlamentschef alle Stadtverordneten in Nidda eisern an. Wenn sich einer zu selten in den Ausschüssen blicken ließ, legte ihm Becker den Rücktritt nahe. Durchsetzungskraft zeigte er zum Beispiel, als er die von Lucia Puttrich (CDU) geführte Stadtverwaltung dazu zwang, alle ans Parlament gerichteten Briefe direkt und ungeöffnet an ihn weiterzuleiten. Denn nicht die Bürgermeisterin, sondern nur der Parlamentsvorsitzende habe den höchsten Rang.
Schon 2001 schrumpfte der politische Einfluss des damals 59-jährigen Niddaers. Gerhard Becker musste das Amt des Unterbezirksvorsitzenden an die viel jüngere Nina Hauer abgeben, die im Bundestag eher zum rechten SPD-Flügel neigte und später auf Landesebene dem auswärtigen Juristen Jürgen Walter ein Wetterauer Landtagsmandat ermöglichte. Walter gehörte bald zu jener Gruppe, die die eigene Ministerpräsidenten-Kandidatin Andrea Ypsilanti stürzte und der SPD somit schwer schadete. Nina Hauer verließ nach dem Debakel die Wetterau und soll heute als Lehrerin arbeiten.
Auch als er schon von seiner Krankheit gezeichnet war, zeigte Gerhard Becker noch Durchsetzungsvermögen. Er sorgte hinter den Kulissen dafür, dass die Wetterauer Sozialdemokraten 2008 nicht dem Florstädter Stefan Rux, sondern der eher links angesiedelten Lisa Gnadl die Chance auf ein Landtagsmandat gaben. Das wirkt bis heute nach.
„Mit den Füßen voran“
Ende 2009 musste Gerhard Becker seiner Krankheit den größten Tribut zollen: Er verließ die Politik und zog in ein Pflegeheim nach Bad Salzhausen. Der Hessische Verdienstorden am Bande und der 2010 verliehene Titel des Niddaer Stadtältesten waren ihm dabei wohl kein Trost. Nach und nach verstummte Gerhard Becker. Gab nur noch Rat, wenn ihn enge Freunde (darunter auch Thorsten Schäfer-Gümbel) im Heim besuchten. Nun ist er tot, die Beisetzung fand unter Rücksicht auf Beckers Familie am Freitag im engsten Kreise statt. Öffentlich wirksam bleiben die politischen Weichen, die Gerhard Becker stellte. Und seinen Freunden die Erinnerung daran, dass die SPD für Gerhard Becker mehr eine Lebenshaltung war als ein taktisches Bündnis. Rolf Gnadl: „Gerhard hasste Konvertiten. Er arbeitete lieber mit gestandenen CDU-Leuten als mit früheren Parteifreunden, die die Fahne gewechselt hatten.“ Einmal habe er gesagt: „Es gibt nur zwei Möglichkeiten, die SPD zu verlassen. Entweder durch Ausschluss. Oder mit den Füßen voran im Sarg.“