Frankfurt mal anders
Von Klaus Nissen
Gute Stimmung, kampfesmutige Alte, politische Gespräche mit wildfremden Passanten waren am 18. März in Frankfurt zu erleben. Nicht nur brennende Polizeiautos und Randale.
Mit S6 in die Kriegszone
Nach dem Aufwachen kommen die Zweifel. Demonstrieren oder nicht? Immer wieder tönt es aus dem Radio: Fahrt nicht nach Frankfurt – da ist Krieg! Autos brennen, Wasserwerfer löschen brennende Barrikaden, Leute werden verletzt. Ich bin nicht lebensmüde. Trotzdem fahre ich los.
Im Hauptbahnhof erwarten Polizisten die S-Bahn. Je drei von ihnen steigen durch jede Tür zu. Die S6 fährt nun in die Kriegszone. Konstablerwache, Ostendstraße. Ich steige aus. Auf dem Weg zum Gewerkschaftshaus scheint die Sonne, wenige Fußgänger. An der Ampel spricht mich ein Geschäftsmann mit Rollkoffer an: Er sei gerade aus Zürich gekommen. Wieso ist es so ruhig hier? Ich dachte, hier wäre Krieg!“
Kurz nach zwölf stehe ich mit mindestens tausend Menschen auf der Wilhelm-Leuschner-Straße vor dem Gewerkschaftshaus. Noch nie habe ich hier so viele Leute demonstrieren sehen. Vor allem graue Köpfe, viele schon pensioniert, ein fröhliches Hallo! Und gibt es Dich auch noch! Man wolle bis vor die EZB ziehen, ruft DGB-Chef Harald Fiedler durchs Megafon. Das sei aber noch nicht sicher. „Ziehen wir erst mal los. Am Eisernen Steg sehen wir weiter.“ Gute Stimmung, nur die Security-Leute vor dem Interconti-Hotel schauen angespannt. Aus einem Bürohaus eilt eine Frau mittleren Alters. Sie reiht sich in den Zug ein.
Die alte Dame ist bewaffnet
An der Untermainanlage gibt es den ersten Stau. Die Polizei lässt die Demonstranten nicht weiter. Dann Schwenk auf den Mainkai, es ist eine Art Massenspaziergang. Die Botschaften locker verstreut: Fluglärm – nein Danke steht auf Buttons. Ein alter Herr trägt ein Schild: Krieg braucht Kapital – Kapital braucht Krieg. Einer trägt das Kreuz wie bei der Fronleichnams-Prozession. „Stoppt Nahrungsmittel-Spekulation“, fordert ein Transparent. Ein anderes: „Arbeitszeitverkürzung Jetzt 30 Stunden Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich!“ Daneben schlendert eine Gruppe italienischer Gewerkschafter dem Logo der FISA-CGIL aus Roma-Lazio. Was immer das ist.
Am Eisernen Steg stoppt die Polizei den Zug schon wieder. Zwei blaue Boote bewachen die Spaziergänger vom Main aus, ein Helikopter von oben. Die längste Pause gibt es gegen halb zwei an der Alten Brücke. Eine zierliche Dame in weißer Strickjacke spricht mich an: „Das ist ja lahm hier! Sind eben alte Leute. Früher hab ich auch schon demonstriert, aber da ging es flotter zu. 1968. Na ja, ich bin jetzt auch schon 68! Empört ist die Dame über die Gruppen von jeweils etwa 20 dicht beieinander stehenden Polizisten. Sie tragen Schienbeinschützer, über der Fleecejacke die schusssichere Weste, die Kampfjacke, am Gürtel Schlagstock und Dienstwaffe, auf dem Kopf oder im Arm den schwarzen Helm mit Visier und Nackenschutz. „Die sehen aus wie Krieger – das provoziert doch Gewalt!“ protestiert die schmächtige Dame. „Ich bin zu einem hin und sagte: Wollen Sie mich jetzt totschlagen? Der Beamte schüttelte den Kopf. „Dann machen Sie wenigstens die Jacke auf. Ich sehe doch, dass Sie schwitzen!“ Das dürfe er nicht, hat ihr der Polizist erklärt. „Ich bin auch bewaffnet“, sagt die Dame kichernd zu mir. „In der Handtasche hab ich das Küchen-Kneipchen – zum Apfelschälen.“ Es sei schon in Ordnung, meint sie, dass die jungen Leute heute früh alles ein wenig aufmischten.
Die Gewerkschafts-Demo schafft nur noch ein Stück die Kurt-Schumacher-Straße hinauf. An der Battonnstraße darf sie nicht rechts in Richtung EZB abbiegen. Und die Kreuzung ist schon von einem Disco-Lastwagen einer anderen Demonstrantengruppe besetzt. Sie tanzen zum Gewummer, es sind junge Leute. Harald Fiedler ruft durchs Megafon zur Kundgebung auf – es sollen Gewerkschafter sprechen, die keiner kennt. Doch das Publikum biegt links ab. Es folgt dem Discowagen und der klaren Mädchenstimme, die zur Kundgebung auf den Römerberg einlädt. Der DGB-Chef muss die eigene Veranstaltung abbrechen. Er wirkt etwas frustriert.
Kurz nach zwei stehen auf dem Römerberg viel mehr Menschen als auf jeder Maikundgebung. Leute allen Alters, viele müssen auf den Platz vor der Paulskirche ausweichen. Ich bekomme Flugblätter der Spartakisten, der DKP (ja, die gibt es noch!) und der Ökologischen Linken in die Hand gedrückt. Ein Redner ruft: „Die Europäische Union ist ein kapitalistische Bündnis, dessen einziges Ziel die Ausplünderung der Massen ist!“ Anschließend skandiert ein Sprecher von Podemos – der möglichen zukünftigen Regierungspartei in Spanien. Es sei Zeit, dass das Volk die Macht übernehme, ruft er in lupenreinem Spanisch. Und es klingt aufrüttelnd. Ya Basta!
Ich habe Hunger. Bei Hanz und Franz an der neuen Kräme stehen die Demonstranten Schlange. Beim Verzehren der Currywurst komme ich am Stehtischchen mit zwei Damen ins Gespräch. Sie arbeiten am Flughafen und kamen nach der Frühschicht hierher. Die Demo gefällt ihnen gut. Vielen Leuten in Südeuropa gehe es schlecht. Kein Wunder, dass am Flughafen überdurchschnittlich viele Griechen arbeiten. Übrigens seien schon gestern viele Polizisten in Frankfurt eingeflogen. Die Führung müsse mächtig Angst haben, dass sie die Kontrolle verliert.
Ein subversiver Eisverkauf
Zum Nachtisch gönne ich mir ein Eis. Die Kugel kostet hier 1,20. Ich bezahle Malaga und Stracciatella mit einem Fünf-Euro-Schein. Der junge Mann hinter der Theke gibt mir drei Euro zurück. Unglaublich! Der Kapitalismus zeigt Schwächen.
Die Reden von Urban Priol und Sahra Wagenknecht spare ich mir. Auf dem Weg zur S-Bahn komme ich über die Zeil. Sie ist voll, aber nicht so voll wie der Römerberg. Vielleicht wacht das Volk eines Tages doch noch auf.