Protestcamp gegen Rückbau
Das juristische „Aus“ für die Fahrradstraße um die Gießener Innenstadt „riecht nach einer ideologischen Entscheidung von Seilschaften innerhalb der Justiz“, meint der Verkehrswende-Aktivist Jörg Bergstedt. Aus Protest gegen den Rückbau der Fahrradstraße wollen Klimaaktivisten am Samstag, 9. September 2023, ein Protestcamp errichten.Abgekartetes Spiel vermutet
Der Verwaltungsgerichtshof (VGH) in Kassel hatte den Verkehrsversuch der Stadt in letzter Instanz für rechtswidrig erklärt, unter anderem mit der Begründung, der Anlagenring habe eine hohe Bedeutung für den Kraftfahrzeugverkehr und werde demgegenüber derzeit nur gering von Radfahrern genutzt. Der von der Stadt herangezogene Klimaschutz könnte eine verkehrsbehördliche Anordnung nicht begründen.
Für Bergstadt ist der gesamte Ablauf „ein abgekartetes, also vorher vereinbartes Spiel mit dem rein ideologisch begründeten Ziel, die Fahrradstraße auf dem Anlagenring zu stoppen“. Die Klage mit Eilantrag sei von Anwohnern der Braugasse 5 eingereicht worden. Der Verkehrsversuch hab nur minimale Auswirkung auf sie. Die Verkehrsbelastung auf dieser Straße sei gering und werde sich durch den Verkehrsversuch nicht wesentlich verändern. Eine Klägerin sei Richterin am Sozialgericht, das zu 270 Meter entfernt sei. Die
Verkehrsberuhigung der Landgrafenstraße führe sogar zu einer höheren Sicherheit für die Klägerin, weil die Zu-Fuß-Route genau über diese Straße und dann per Drückampel über den Anlagenring führe, der durch den Verkehrsversuch ebenfalls sicherer geworden sei. Die Kläger seien „durch die Maßnahme gar nicht beschwert, sondern teilweise
sogar bevorteilt. Ihnen hätte von Beginn an das Klagerecht abgesprochen werden müssen“, meint Bergstedt.
Die beiden Stellungnahmen, die im Verwaltungsverfahren berücksichtigt wurden, stammten aus CDU-Hand. „Das Regierungspräsidium Gießen ist CDU-geführt und bereits in der Vergangenheit hinsichtlich Autoverkehrsprojekten nicht als neutrale Genehmigungsbehörde, sondern als Befürworter selbst neuer Straßenbauten aufgefallen. So war das RP Kontaktadresse und Koordinierung der Kampagne „JA49“ für den Bau der Autobahn A49. Die Stellungnahme des Polizeipräsidiums wurde nicht von deren passenden Fachabteilungen unterzeichnet, sondern vom kurz danach in Pension verabschiedeten Polizeipräsidenten Bernd Paul persönlich. Der ist CDU-Mitglied und aktiv im aktuellen Landtagswahlkampf des CDU-Direktkandidaten Lucas Schmitz, dessen Hauptthema eine Kampagne gegen die beklagte Fahrradstraße auf dem Anlagenring ist“, so Bergstedt.
Klimaschützer protestieren
Hauptakteur ist laut Bergstadt Harald Wack. Der sei bis zum 15. Juni 2023, also noch in der Startphase des Verkehrsversuchs, Präsident des Verwaltungsgerichts Gießen gewesen, also genau des Gerichts, das in erster Instanz den Verkehrsversuch als rechtswidrig bezeichnete. Seither sei er Vorsitzender Richter am Hessischen Verwaltungsgerichtshof in Kassel „und fällt als solcher die zweitinstanzliche Entscheidung, nach der der Verkehrsversuch rechtwidrig war. Die beiden gerichtlichen Entscheidungen hängen damit personell zusammen. Vor allem aber ist Harald Wack als FDPler aktiv, nicht nur in der Partei, sondern auch als Kandidat zur Kommunalwahl 2021“, berichtet Bergstadt. Es sei ein „belanglose und offensichtlich sinnlos begründete Klage“ eingereicht worden, die gar keinen direkten Bezug zu den Fahrradstraßen habe. Sie hätte wegen fehlendem Rechtsschutzinteresse abgelehnt werden müssen. Das hätte die Richterin unter den Klägern wissen müssen. Bergstadt: „Warum hat sie trotzdem geklagt? Die Vermutung liegt nahe: Sie wusste, dass das Verwaltungsgericht ihre Klage nutzen würde, um die ganze Fahrradstraße für rechtswidrig zu erklären.“
Die Unabhängigkeit der Gerichte sei deutlich in Frage gestellt, meint Bergstadt. Das juristische Aus für die Gießener Fahrradstraße sei keine rechtmäßige Entscheidung, sondern eine ideologische, „und das vermutlich aufgrund einer geplanten Intrige“. Der Filz zwischen Politik, Justiz und Polizei könne in Gießen die Verkehrswende abwürgen, die dann nicht einmal die Baustellenphase überlebe.
Aus Protest gegen den Rückbau der Fahrradstraße wollen Verkehrswende- und Klimaaktivisten am Samstag, 9. September 2023, ab 14 Uhr auf der Landgrafenstraße ein Protestcamp errichten, mit Zelten, Ausstellungen, Workshops, Veranstaltungen, Angeboten für die Anwohner. Der von ihnen ausgewählte Ort sei „hochsymbolisch“, denn von hier sollen in Kürze wieder Autos auf die Ostanlage fahren dürfen, auf die Fahrradstraße und sogar gegen die Fahrtrichtung der Radfahrer. „Der reinste Horror, gefährlicher als je zuvor!“, meine die Aktivisten. Mit Eilanträgen wollen sie den Rückbau juristisch stoppen. Gegen den Rückbau der Fahrradstraße gehen sie juristisch vor. Sie rufen den Magistrat und die Fraktionen auf, auf den Rückbau zu verzichten, bis die Gerichtsentscheidungen endgültig sind. Das Protestcamp ist zunächst bis Ende September angemeldet. Samstag und Sonntag sind auf dem Camp erste Veranstaltungen geplant, unter anderem eine Diskussion „Fahrradstraße auf dem Anlagenring – pro und contra“, zu der auch die Fraktionen im Stadtparlament eingeladen sind. Am Montag, 11. September, wollen sich die Aktiven dann an der Critical Mass (17 Uhr ab Berliner Platz) und an der Demonstration ab 17.45 Uhr auf dem Rathausvorplatz parallel zur Sondersitzung der Stadtverordnetenversammlung beteiligen.
Titelbild: Die geplante Fahrradstraße in Gießen.
Jetzt müssen sogar Verschwörungsphantasien ran, um vom eigentlichen Problem abzulenken. Politik, Polizei und Justiz haben sich angeblich verschworen und ziehen im Hintergrund die Fäden, um die Protagonisten nicht zu ihrem selbsternannten Recht kommen zu lassen. Trump zieht diese Nummer schon seit Jahren ab.
Wenn man den Fall nüchtern betrachtet sieht man einen Gießener Bürgermeister, der eklatante Fehler im Projektmanagement gemacht hat. Dies war eine Demonstration seiner Unfähigkeit sondergleichen. Er sollte seine Fehler einsehen und mit Anstand gehen, anstatt sich krampfhaft an seinem Posten, der mehrere Nummern zu groß für ihn ist, festzuhalten. Andi Scheuer mit den versenkten 250 Millionen Steuergeldern lässt grüßen.
Die CDU und die Autolobby hat jahrelang dafür gesorgt, dass Vertreter der Autolobby an den entscheidenden Positionen sitzen. Juristische Niederlagen gegen Fahrradstraßen und Verkehrsversuche gibt es überall in Deutschland, ob in München, Frankfurt oder erst vor einem Monat in Köln. Klagt hingegen jemand umgekehrt gegen Autoverkehr, sind die Chancen gering. Hier wird mit zweierlei Maß gemessen, und daran ist nicht der Gießener Bürgermeister schuld
Dem Gießener Bürgermeister einen Freibrief für Fehlplanung auszustellen finde ich ein falsches Signal. Er hat als Projektleiter die Verantwortung. Mit reichlich Gegenwind musste er rechnen und Vorkehrungen für eine heftige juristische Auseinandersetzung treffen müssen. Da hat er die Lage schlicht und einfach falsch eingeschätzt und nun mehr als eine Million Euro aus dem Fenster geworfen.
Andy Scheuer sitzt trotz seiner Vergangenheit im Bundestag mit Schwerpunkt Mobilität. Lächerlich.
Als Grünen Wähler, Fahrrad- und Autofahrer lebe ich seit 40 Jahren in Gießen und würde mich freuen, wenn sich unser Bürgermeister nicht in diese Art des Politikverständnisses einreiht und stattdessen seinen Rücktritt verkünden würde.