Wahlkreise ohne Abgeordnete?
Von Klaus Nissen
Ein großer Bundestag ist teuer. Mehr als 38 000 Euro pro Monat müssen die Steuerzahler für jeden der 736 Abgeordneten aufbringen. Jetzt werden in Berlin die Regeln ausgehandelt, nach denen künftig „nur“ noch 598 Abgeordnete zu wählen sind. Was meinen dazu die Abgeordneten aus dem Wetteraukreis?Abgeordnete für kleineren Bundestag
Der Plan ist anspruchsvoll: Die Abgeordneten sollen ihre eigenen Pfründe beschneiden. Der Bundestag ist das kopfstärkste demokratisch gewählte Parlament der Welt. Die 84 Millionen Menschen in Deutschland sandten zuletzt 736 Vertreter in den Bundestag. Die 1,4 Milliarden Inder dagegen lassen sich nur von 545 Abgeordneten im „Volkshaus“ – der Lok Sabha – vertreten.
Die durch Überhang- und Ausgleichsmandate verursachte Inflation der Parlamentssitze in Deutschland soll nun auf die reguläre Größe von 598 gestutzt werden. Die Ampel hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, der in den nächsten Monaten für heftige Debatten sorgen wird. Auch die drei hiesigen Abgeordneten Bettina Müller, Natalie Pawlik (beide SPD) und Peter Heidt (FDP) haben dazu eine deutliche Meinung.
Zwei Frauen zogen das Direktmandat
Wer die meisten Erststimmen bekam, hatte bisher eine Garantie aufs eigene Bundestagsmandat. So kam 2021 die 30-jährige Bad Nauheimerin Natalie Pawlik aus Bad Nauheim für den Wahlkreis 177 Wetterau I nach Berlin. Auch im Wahlkreis 175 Wetterau II für Main-Kinzig, Wetterau und Schotten bekam die SPD-Kandidatin Bettina Müller das Direktmandat und somit ein sicheres Ticket für den Bundestag.
So ein Durchmarsch ist nicht mehr garantiert, wenn sich SPD, Grüne und FDP mit ihren Ideen zur Reform des Bundeswahlgesetzes durchsetzen. Ein Direktmandat kann wertlos werden, wenn eine Partei mehr Wahlkreissieger hat als ihr anteilmäßig nach dem auf Landesebene heruntergerechneten Wahlergebnis aus den Zweit- oder künftig Hauptstimmen zusteht.
Pawlik und Müller berieten Mitte Januar 2023 in ihrer Bundestagsfraktion über die Wahlrechtsreform. Danach sagten sie Ja zur Abschaffung der Überhang- und Ausgleichsmandate. Auch wenn ihre Direktmandate dadurch künftig nicht mehr ganz so sicher sind wie bisher.
Ohne Reform droht ein Parlament mit 900 Abgeordneten
Bettina Müller: „Die SPD hat in den Wetterauer Wahlkreisen keine Mandate über Ausgleichs- oder Überhangmandate im Bundestag erhalten. Der Einzug gelang entweder über sichere Listenplätze über die Direktwahl.“ Das werde auch künftig klappen: „Da sehe ich bei der Stärke der hessischen SPD keine Probleme.“ Natalie Pawlik ergänzt: Wichtiger als die Position der jeweiligen Partei sei die Arbeitsfähigkeit der Abgeordneten. Und die werde mit der Ampel-Reform gesichert. Ohne Reform drohe der Bundestag in einigen Jahren auf 900 Abgeordnete zu wachsen.
Neben Pawlik und Müller vertritt der Bad Nauheimer Freidemokrat Peter Heidt die Wahlkreise 175 und 177 in Berlin. Der 57-jährige Rechtsanwalt kam 2019 als Nachrücker über die FDP-Landesliste in den aufgeblähten Bundestag. „Wir haben im Parlament inzwischen Platzprobleme und erschwerte Arbeitsbedingungen“, sagt er. „Die vielen Abgeordneten sind auch teuer für die Steuerzahler. Eine Verkleinerung des Bundestages ist notwendig.“
Allerdings wären 598 Abgeordnete seiner Meinung nach zu wenige. Denn das Parlament habe mehr Aufgaben und Ausschüsse als früher. Damit auch kleine Fraktionen gut arbeiten können, findet Heidt einen Bundestag mit etwa 630 Abgeordneten optimal. Das will er in den Verhandlungen vorschlagen. Wichtig sei ihm, dass jede Wählerstimme gleich viel zählt.
Die CDU-Kreisvorsitzende Lucia Puttrich würde die Abschaffung der Überhang- und Ausgleichsmandate ablehnen, wenn sie noch Bundestagsabgeordnete wäre. Sie bevorzugt andere Modelle, den Bundestag zu verkleinern.
CDU sieht bessere Modelle, den Bundestag zu verkleinern
Etwa das „Grabenwahlrecht“. Da könne man eine feste Abgeordneten-Zahl bestimmen, die zur Hälfte aus Wahlkreisgewinnern und zur anderen aus dem Ergebnis der Zweitstimmen ermittelt würde. Dann gäbe es „keinen komplizierten Ausgleich mehr zwischen den beiden unterschiedlichen Systemen, sondern eine klare Trennlinie.“
Im Extremfall wird nach dem Ampel-Modell auch mal gar kein Abgeordneter mehr aus einem Wahlkreis in den Bundestag kommen. Das passiert, wenn der Wahlkreissieger relativ wenige Stimmen bekommt und auch die anderen Kandidaten weit hinten auf der jeweiligen Landesliste stehen. Doch die Wetterau hatte schon früher mehrfach keinen eigenen Abgeordneten. Im September 2010 gab Lucia Puttrich ihr Direktmandat nach wenigen Monaten zurück, weil sie Umweltministerin in Wiesbaden wurde. Und 2017 verließ auch ihr Nachfolger Oswin Veith (CDU) den Bundestag vorzeitig, um Ovag-Vorstand zu werden. Der Wahkreis trug von diesen Vakanzen keine sichtbaren Schäden davon.
Zwei Bundestags-Wahlkreise
Rund 177 000 Wahlberechtigte leben in den 17 Städten und Gemeinden des Bundestagswahlkreises 177 Wetterau I. Sie decken den Westkreis inklusive Nidda und Ranstadt ab. Das Direktmandat errang 2009 Lucia Puttrich und seit 2013 Oswin Veith – beide von der CDU. 2021 setzte sich die junge Sozialdemokratin Natalie Pawlik mit gut 1800 Stimmen Vorsprung gegen den früheren Bad Nauheimer Bürgermeister und Kreistagsvorsitzenden Armin Häuser (CDU) durch.
Der Wahlkreis Wetterau II weiter östlich zählt 178 000 Wahlberechtigte und existiert erst seit 2013. Er reicht von Schlüchtern im Main-Kinzig-Kreis bis Schotten im Hohen Vogelsberg. Aus der Wetterau gehören Altenstadt, Büdingen, Gedern, Glauburg, Hirzenhain, kefenrod, Limeshain und Ortenberg hinzu. 2013 und 2017 war der CDU-Generalsekretär Peter Tauber klarer Wahlkreissieger. Nachdem er sich aus der Politik zurückzog, bekam 2021 die bislang per Liste gewählte SPD-Kandidatin Bettina Müller ihr Direktmandat. Allerdings errang der junge Gelnhausener CDU-Mann Johannes Wiegelmann mit 27,5 Prozent der Erststimmen einen Achtungserfolg.
Falls die Wahlrechtsreform der Ampel in Berlin scheitert, könnte die 2020 vorgeschlagene Abschaffung von 19 der 299 Wahlkreise den Bundestag ebenfalls verkleinern. Von der Streichung bedroht wären in Hessen der Wahlkreis 170 im Schwalm-Eder-Kreis – und der Wahlkreis Wetterau II.