„Schlag gegen liberales Klima“
Enttäuscht, schockiert und beunruhigt schaute am Sonntagabend im Gießener Rathaus die Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger, die sich über die Ergebnisse der Kommunalwahl vom 6. März 2016 informieren wollen, auf die Trendtafeln an der Leinwand: Sowohl in der Gießener Stadtverordnetenversammlung als auch im Kreistag werden mit allergrößter Wahrscheinlichkeit Mandatsträger der AfD einziehen. Es ist davon auszugehen, dass die „Alternative für Deutschland“ in beiden Parlamenten um die 15 Prozent der Stimmen oder sogar mehr erhalten hat. „Das Wahlresultat für diese Rechtspopulisten ist noch schlimmer ausgefallen als erwartet“, schüttelte eine ältere Frau den Kopf und erhielt dazu von ihren Gesprächspartnern keine Widerrede.
AfD-Ergebnis im Kreis Gießen schockiert
Die Stimmung im Rathaus war – einmal abgesehen bei Mitgliedern und Sympathisanten der AfD – betrübt-gedämpft. Diesmal erlebte man nicht in einer Gießener Wahlnacht, dass Mitglieder einer erfolgreichen Partei oder Wählergruppe euphorisch jubelten und sich in die Arme fielen.
Betroffen und enttäuscht
Die Gesichter der Menschen im Rathaussaal drückten eher Betroffenheit und Enttäuschung aus, ob es der CDU-Kreisvorsitzende Staatsminister Helge Braun, Thorsten Schäfer-Gümbel (Landesvorsitzender und Landtagsfraktionsvorsitzender der hessischen SPD), MdL Wolfgang Greilich (FDP) oder die Gießener Oberbürgermeisterin Dietlind Grabe-Bolz (SPD) waren. „Es gibt nicht wenige Menschen, die fremdenfeindlich sind und so wählen“, spielte Thorsten Schäfer-Gümbel im Gespräch mit dem „Landboten“ auf das AfD-Ergebnis an und drückte seine Besorgnis ebenso wie Staatssekretär Helge Braun aus, der symbolisch die Ärmel hochkrempelte, um Ausländerhass entgegenzusteuern: „Wir müssen und werden dazu Lösungen finden“.
Problemviertel
Den Bürgern im Gießener Rathaus wurden – je mehr Trendergebnisse eintrafen – zunehmend bewusst, dass die hohen Stimmenanteile für die AfD die gesellschaftliche und politische Landschaft verändert haben. Dies kann man beispielsweise daran erkennen, dass die „Alternative für Deutschland“ in Gießener Stadtteilen, die als Wohngebiete mit sozialen Problemen gelten, Stimmen bis rund 40 Prozent (in der Nordstadt oder in der Weststadt) sammelte. Prof. Dr. Heinrich Brinkmann, der in Gießen wieder für die Grünen kandidierte, brachte es auf den Punkt: „Ob es CDU, SPD oder auch die Grünen sind: Die etablierten Parteien haben in diesen Brennpunkt-Stadtvierteln Stimmen abgegeben“. Und er kommt zum Schluss: „Das AfD-Ergebnis ist ein Schlag gegen ein liberales Klima in Deutschland.“ Prof. Brinkmann prognostizierte am Sonntag schon früh, als die ersten Trendergebnisse einliefen: „Die rot-grüne Mehrheit in Gießen wackelt.“ Womit er recht haben könnte: Bisher kommt die SPD auf rund 28 Prozent (Verlust gegenüber 2011 insgesamt etwa sechs Prozent). Genauso hoch ist das Minus bei der CDU, deren Trend bei 20 Prozent liegt. Dann kommt schon die AfD mit etwa 15,5 Prozent. Die Grünen liegen bei 15 Prozent, die FDP bei 4,5 Prozent, die FWG bei 3,9 Prozent, die Piraten bei 2 Prozent, die Bürgerliste bei 1,8 Pozent und die Gießener LINKE bei 9,1 Prozent. Wahlbeteiligung in Gießen: rund 50 Prozent.
Ängste schnell gewichen
Wie sieht es im Gießener Kreistag aus? SPD 28,6 Prozent, CDU 22,4 Prozent, AfD 16 Prozent, Grüne 10,8 Prozent, FDP 4,8 Prozent, FWG 10,4 Prozent, Piraten 1,8 Prozent und die LINKE 4,7 Prozent.
Im Gießener Rathaus diskutieren die Bürgerinnen und Bürger noch lange in der Nacht, wie es zu solch hohen Verlusten der traditionellen Parteien und Gruppierungen kommen konnte. Interessant in diesem Zusammenhang ist, was der hauptamtliche Kreisdezernent Dirk Oßwald (FWG) sagte, der Ende des Jahres zur „Lebenshilfe“ wechselt und für den Kreistag und das Laubacher Parlament kandidiert. Er empfindet die hohen AfG-Stimmenanteile schockierend. Er hat in der Flüchtlingsdiskussion immer wieder von Menschen, in deren Gemeinden die Ankunft von Flüchtlingen zu erwarten war, gehört, dass „sie Ängste haben.“ Aber in den Städten und Gemeinden, in denen die Flüchtlinge jetzt leben, seien diese Ängste schnell gewichen, weil das Verhältnis zwischen der deutschen Bürgern und den Neuangekommenen insgesamt gut sei. Soweit Dirk Oßwald. Auch er ist gespannt, wie die Schlussergebnisse der Kommunalwahl aussehen werden. Wird sich der Trend noch erheblich ändern?