Familie Büchner krimireif
Von Bruno Rieb
Jacob Trumpfheller wurde am 16. Oktober 1836 in Darmstadt auf der Bessunger Viehweide der Kopf abgeschlagen. Ihm wurde vorgeworfen, den Michelstädter Förster Lust ermordet zu haben. Ernst Büchner schleppte seinen 12 Jahre alten Sohn Ludwig mit zu der Hinrichtung. Ella Theiss hat über den Förstermord einen historischen Kriminalroman geschrieben, der auch um die Familie Büchner kreist: „Darmstädter Nachtgesänge“.Theiss dichtet der Famlie Büchner das Dienstmädchen Anna an und macht es zum Bindeglied zur wahren Mordgeschichte. Anna stammt aus Michelstadt, kennt Trumpfheller und soll den ebenfalls aus Michelstadt stammenden Roderich heiraten, der auch als Mörder des Försters in Frage kommt. Trumpfheller war wahrscheinlich unschuldig. Er hatte die Tat erst nach zwei Jahren Haft und zweifelhaften Vernehmungsmethoden gestanden. Theiss stieß in den „Annalen der deutschen und ausländischen Rechtsgeschichte“ auf einen ausführlichen Eintrag. „Darin erweist sich der Bericht des Untersuchungsrichters als grob fehlerhaft, um nicht zu sagen als manipuliert. Trumpfheller hätte – auch nach der damals geltenden Rechtsprechung – mangels belastbarer Indizien gar nicht erst festgesetzt geschweige denn hingerichtet werden dürfen“, schreibt Theiss im Nachwort ihres Buches. Die Autorin dokumentiert im Roman immer wieder Auszüge aus den Rechtsgeschitsannalen.
Ein Koffer voll mit Landboten
Theiss nutzt die Kriminalgeschichte, um ausführlich von der Familie Büchner zu erzählen, die in einem Haus „im vornehmsten Viertel von Darmstadt mit eleganten Wohnhäusern und Amtsgebäuden“ lebt. Vater Büchner ist ein angesehener Medizinalrat. „Er sieht so drein, wie er meistens dreinsieht und auch mit Vornamen heißt: Ernst“, schreibt Theiss. Aber es geht weniger um den Vater, viel mehr seinen ältesten Sohn Georg, sein Aufbegehren gegen die feudalen Verhältnisse dieser Zeit und den „Hessischen Landboten“, die revolutionäre Flugschrift, die er mit dem Butzbacher Pfarrer Friedrich Ludwig Weidig verfasste und die mit dem Slogan der Französischen Revolution „Friede den Hütten, Krieg den Palästen!“ erschien.
Theiss lässt Georg Büchner einen ganzen Koffer voll mit dieser Flugschrift nach Hause schleppen. Dienstmädchen Anna hat sie zuvor schon Notizen Georgs für den Landboten finden lassen. „Einen Aufsatz mit so vielen Zahlen drin will sowieso kein Mensch lesen. In hundert Jahren nicht!“, lässt Theiss das Dienstmädchen sagen.
Nach Georg wird gefahndet und seine Geschwister Wilhelm und Luise wollen den Koffer mit den Flugschriften verschwinden lassen. Auf Umwegen landen einige, in handliche Stücke gerissen, auf dem Plumpsklo der Familie. Dort liest der zu Besuch weilende angehende Journalist Oskar in den Papierfetzen und kann nicht fassen, dass dort steht: „Das Gesetz ist das Eigentum einer unbedeutenden Klasse von Vornehmen und Gelehrten, die sich durch ihr eignes Machwerk die Herrschaft zuspricht.“ Und: „Doch das Reich der Finsternis neigt sich zum Ende.“ Oskar, der im Verlag Carl Wilhelm Leske arbeitet, soll auf Anweisung seines Chefredakteurs eigentlich Georg Büchner bespitzeln, schlägt sich aber immer mehr auf dessen Seite. Er erkennt die Gefahr für die Büchners, wenn die Zettel gefunden werden, und wirft sie allesamt ins Klo. Später macht er sich mit Anna auf, um den Koffer mit den übrigen Flugschriften zu vergraben. Aber Oskar stolpert, der Koffer plumpst hin, „die Deckel klappen auseinander, entlassen Hunderte von Zeitungen, die sich wie schwerfällige Enten in die Luft erheben“, schreibt Theiss im Kapitel „Der ‚fliegende‘ Landbote“.
Treffendes Zeit- und Lokalkolorit
Papa Ernst ist in Theiss Roman übrigens überzeugt, dass Sohnemann Georg nichts mit dem Landboten zu tun haben kann. „Das Pamphlet soll bekennerhaft religiöse Parolen enthalten“, lässt sie ihn sagen. „Damit scheidet Georg als Verfasser ohnehin aus. Bei aller christlichen Erziehung, die wir ihm haben angedeihen lassen, stünde ihm dergleichen nicht zu Gesicht. Das Ministerium vermutet einen Pfarrer dahinter.“
Theiss stellt Georgs jüngere Schwester Luise als gewitztes Mädchen vor. Luise Büchner gelangte später als Vorkämpferin für Frauenrechte zu Ruhm. Der Büchner-Biograf Jan-Christoph Hauschild beschreibt in seinem Buch „Georg Büchners Frauen“ Luise so: „Sie war keine radikale Revolutionärin, weder Suffragette noch Feministin, sondern ein ‚Blaustrumpf‘, wie die damalige Spottbezeichnung für eine Frau mit ausgeprägten literarischen oder wissenschaftlich-gelehrten Interessen lautete, Vorkämpferin für die Befreiung der Frau aus ihrer teils selbst verschuldeten Unmündigkeit und Abhängigkeit.“ Luise ist in der Zeit, in der der Roman spielt, noch zu jung, um Blaustrumpf zu sein. Theiss lässt dafür Anna in Blaustrumpfkreise geraten und fleißig blaue Strümpfe stricken. Luise Büchner wäre am 12. Juni 2021 übrigens 200 Jahre alt geworden.
Einer der besten Kenner der Familie Büchner, Peter Brunner, attestiert Theiss, sie habe „einen stimmigen historischen Kriminalroman“ geschrieben, „der treffendes Zeit- und Lokalkolorit bietet“. Brunner empfiehlt: „Wer einen Eindruck von Darmstadt der 1830er Jahre gewinnen will, ohne sich gleich in Geschichtsstudien zu vertiefen, ist mit diesem Buch gut bedient.“ Brunner hat Theiss übrigens geholfen, jene Zeit in Darmstadt so treffend zu beschreiben. Der habe ihr geduldig ihre Fragen beantwortet, wenn sie „vor lauter Fülle an Stoff nicht mehr recht durchgeblickt habe“, schreibt sie.
Ella Theiss ist eine lesenswerte Mischung aus wahrer Kriminalgeschichte und einfühlsamer Schilderung der Familie Büchner und ihrer Zeit gelungen. Die Autorin schildert die soziale Not, die der Hintergrund für den Mord an dem Förster war. Um zu überleben, mussten die armen Michelstädter Holz stehlen und wildern. Der ungeliebte Förster war der Büttel der Feudalherren, der die armen Diebe brutal verfolgte. Im Kreis der Revolutionäre um Büchner ist Gewalt gegen diese barbarischen Verhältnisse legitim. Der vermeintliche Förstermörder Trumpfheller wird in ihren Augen zum Helden. Der wundert sich über die plötzliche Zuneigung der vielen politischen Gefangenen im Darmstädter Gefängnis.
Die „Darmstädter Nachtgesänge“ erklingen übrigens, wenn das Dienstmädchen Anna mit ihren revolutionären Freunden abends vor das neue Darmstädter Arresthaus zieht und Lieder wie „Die Gedanken sind frei“ singt. „Es geht übel zu im neuerbauten Arresthaus, wo immer mehr junge Männer aus allen Teilen des Großherzogtums wegen angeblichen Landesverrats eingesperrt sind“, schreibt Thess und fährt fort: „Voller Schmutz sei der knast, Kakerlaken hätten Einzug gehalten. Einzelzellen enger als Hühnerställe soll es geben, Betten so kurz, dass die Füße raushängen, Besuchserlaubnis nur von engen Verwandten. Auch Briefe würden einbehalten, kontrolliert, Tritte und Schläge würden ausgeteilt, Schikanen über Schikanen.“
Ella Theiss heißt eigentlich Elke Achtner-Theiß und ist gelernte Journalistin. Sie hat ihr Handwerk bei der Frankfurter Rundschau gelernt und dort als Redakteurin gearbeitet. Unter dem Pseudonym Ella Theiss schreibt sie historische und zeitgenössische Romane.
Ella Theiss: Darmstädter Nachtgesänge, Taschenbuch, edition oberkassel, 386 Seiten. ISBN: 978-395813-232-0, 13 Euro.