Paranoid– aber „zurechnungsfähig“
von Jörg-Peter Schmidt
Der schwedische Autor Steve Sem-Sandberg hat intensiv die Dokumente studiert, aus denen der Lebensverlauf, die Verhöre, der Prozess und die Hinrichtung des historisch verbürgten Johann Christian Woyzeck (1780 – 1824) hervorgehen. Im Palmenhaus des Botanischen Gartens in Gießen stellte der Schriftsteller seinen Roman mit dem Titel „W.“ vor, der sich mit dem Mord Woyzecks an seiner Geliebten und seinen Jahren vor dem Verbrechen beschäftigt.Großartige Leistung von Schauspieler Songin
Die von Prof. Dr. Sascha Feuchert moderierte Veranstaltung des Literarischen Zentrums Gießen (LZG), die in Kooperation mit der Justus-Liebig-Universität Gießen in der Veranstaltungsreihe »Kultur im Garten« stattfand, war außerordentlich gut besucht. Die Zuhörerinnen und Zuhörer zeigten sich beeindruckt: Nicht nur von dem im Verlag Klett-Cotta erschienenen Roman. Sondern auch von der Einfühlsamkeit, wie der Schauspieler Sebastian Songin (Stadttheater Gießen) Szenen aus dem Buch des Erzählers vortrug. Songin verdeutlichte durch stimmliche Gestik – mal leiser, mal lauter sprechend – die Charaktere und Stimmungen der Personen der wahren Geschichte, die Georg Büchner durch sein Dramenfragment bekannt gemacht hat.
Leben des Beschuldigten lag in der Hand des Gutachters
Da ist beispielsweise der Hofrat Johann Christian August Clarus, der die Aufgabe hat zu begutachten, ob der „Delinquent“ zurechnungsfähig ist. Davon hängt ab, ob Woyzeck hingerichtet wird oder – sicherlich lebenslang – im Gefängnis landen würde.

Schauspieler Songin charakterisierte den Bürokraten Clarus – wie im Buch beschrieben – mit trockenem, hölzernen Ton, der voller Verachtung auf den Gefangenen herabschaut. Sein Gutachterresümee stand für ihn sicherlich von vornherein fest: Der „Inquisit“ bzw. „Delinquent“ sei zurechnungsfähig. Zu diesem Schluss kommt er, obwohl auch ihm nicht entgangen ist, dass der des Mordes an der Witwe Johanna Christiane Woost Beschuldigte nachweislich Symptome der Schizophrenie zeigte.
„Delinquent“ hörte oftmals „Stimmen“
Stimmlich leiser, zurückhaltender kennzeichnete Songin Johann Christian Woyzeck im Verhör: Der Mörder, dessen furchtbare Tat mit einem Degen Steve Sem-Sandberg in seinem Roman nie entschuldigt, antwortet dem Gutachter mit Verunsicherung – wohl auch unter dem Eindruck seines Verbrechens und der zu befürchtenden Strafe. Woyzeck berichtet in den Verhören über die „Stimmen“, die ihn zu bestimmten Handlungsweisen („Stich, stich die Woostin tot. Stich sie, tot, tot!“) verleiten. Auch zittert Woyzeck oft, hat Wahnerscheinungen.

Autor: Krieg zerstörte Woyzeck seelisch

Nach der Lesung durch Sebastian Songin beantwortete in englischer Sprache Steve Sem-Sandberg die Fragen Sascha Feucherts. Der Schriftsteller, der für seinen Roman Die Elenden von Lódz mit dem August-Preis auszeichnet wurde, ist bei seinen Recherchen zum Ergebnis gekommen, dass Woyzeck durch seine Kriegserlebnisse nachhaltig seelisch gestört war.
Für den Schriftsteller war die Lesung im Palmenhaus ein Wiedersehen mit Gießen. Er hatte als Autor in Gießen an der Arbeitsstelle Holocaustliteratur wissenschaftlich gearbeitet. Dabei ging es um sein Buch „Die Elenden von Lódz“. Offensichtlich ist er gern in Gießen. Vielleicht auch, weil hier eine Zeitlang Georg Büchner gelebt hat, den er sehr schätzt.
Titelbild: Bei der Lesung in Gießen: von links: Schauspieler Sebastian Songin, Autor Steve Sem-Sandberg und Moderator Sascha Feuchert. (Fotos: Jörg-Peter Schmidt)