Auf Zeitreise mit Dr. Werner Schmidt
Wer möchte das nicht, in der Zeit Jahrhunderte zurückfliegen zu können und zu schauen, wie es in seiner Heimatstadt früher zuging? Im Liebig-Museum in Gießen (direkt neben dem Mathematikum und in der Nähe des Bahnhofs gelegen) ging im voll besetzen Hörsaal für die rund 80 Zuhörerinnen und Zuhörer zumindest virtuell dieser Traum in Erfüllung. Referent Dr. Werner Schmidt hat in der Lokalhistorie recherchiert und er bat jetzt darum, ihn auf einem Spaziergang im Jahr 1847 durch das damals neu entstandene Wohngebiet „Selzerberg“ zu begleiten – und zwar auf den Spuren des weltberühmten Wissenschaftlers Justus von Liebig.
Mineraldünger und Fleischextrakt
Liebig lehrte bekanntlich auf Empfehlung von Alexander von Humboldt seit 1824 als außerordentlicher Professor für Chemie und Pharmazie an der Universität in der mittelhessischen Stadt. Er konnte nicht wissen, das die Gießener Uni später einmal seinen Namen tragen würde – verdientermaßen: Denn der gebürtiger Damstädter hat im Laufe seines Forscherlebens in seinem Laboratorium wegweisend unter anderem Mineraldünger, Fleischextrakt und die Vorläufer der Babynahrung entwickelt. Stets war es ihm dabei ein Anliegen gewesen, den hungernden Menschen in der Bevölkerung zu helfen.
Über die wissenschaftlichen Erfolge des Freiherren (diesen Titel trug er seit 1845) zu berichten, wäre einen eigenen langen Artikel im „Landboten“ wert. Aber der Gießener Werner Schmidt, der im historischen Frack und Zylinder gekleidet war, stellte klar, dass es bei seinem Vortrag vielmehr um die bauliche Topografie rund um das Labor Liebigs geht. Dass auch dies ein spannendes Thema sein, stellte sich in der Veranstaltung der Gießener Liebig-Gesellschaft dann in der Tat heraus.
Politisch und räumlich eingezwängt
Wie aber waren die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in der Universitätsstadt, als der Chemiker nach Gießen von der Uni Erlangen wechselte, wo er sich beispielsweise durch Teilnahme an einer Demonstration gegen willkürliche Herrschaft engagiert hatte? Der Referent beschrieb die politische Situation, an der nicht nur der ebenfalls in Gießener weilende Schriftsteller Georg Büchner verzweifelte: „Die Restauration brachte die Wiederherstellung des Zustands vor der Französischen Revolution mit sich: Revolutionäre Gedanken wurden unterdrückt. Mit den Karlsbader Beschlüssen von 1819 gingen weitere scharfe Maßnahmen gegen die Meinungsfreiheit einher.“ Viele Bürger fühlten sich gedanklich eingequetscht. Quasi symbolisch passte dazu die bauliche Situation, wie auf dem geschichtlichen Rundgang zu erfahren war: Gießen war in seiner architektonischen Entwicklung durch die Grenzwälle eingeschränkt. In diesem „Pferch“ befand sich im Botanischen Garten ein Institut mit einem chemischen Labor.
Frische Luft zieht durch Gießen
Dann aber zog (wenn auch nicht politisch) frische Luft durch Gießen: Die Befestigungswälle wurden zwischen 1805 und 1810 abgerissen. Die Stadt, deren Einwohnerzahl zwischen 1820 und 1840 von rund 5000 auf etwa 7000 zunahm, konnte sich endlich ausdehnen. So wurde weitläufig rund um die heutige Frankfurter Straße auf einer Anhöhe eifrig gebaut, und zwar auf dem Seltersberg (benannt nach einem ehemaligen Dorf). Dieses Neubaugebiet hatte den Vorteil, dass es nicht so sumpfig war wie viele andere Flächen der Stadt. Es dauerte nicht lange und interessante Persönlichkeiten zogen in neugebaute Häuser ein wie der Provinzial- und Universitätsbaumeister Johann Philipp Hofmann, unter dessen Leitung noch weitere Gebäude im Seltersberg errichtet wurden. Hofmann war der erste, der sein Haus an der Nahtstelle zwischen bisherigen Stadtgebiet dem Neugebiet auf dem Seltersberg errichtete.
Es siedelte sich zudem Christian Ferber an, der den Hessischen Hof betrieb. Und unter der Leitung des Prof. Hugo von Ritgen wurde für den Kaufmann Carl Müller II. ein Wohnhaus errichtet, für stattliche 42000 Gulden.
Medizinische Institute und Ausflugslokale
Auf den Seltersberg zog es auch Prof. August von Klipstein, Leiter der Gießener Forstlehranstalt, der als Mineraloge zu Berühmtheit gelangte. Die Reporter der Zeitungen berichteten aufgeregt darüber, dass Klipstein in der Nähe des Dorfes Eppelheim im südlichen Rheinhessen einen gewaltigen fast eineinhalb Meter langen und rund einen Meter breiten historischen Tierschädel entdeckt hatte, den kräftige Männer ausgruben. Der Oberschädel, der auf einem Leiterwagen zur Untersuchung nach Alzey zur Untersuchung transportiert wurde, hat mehrere Zentner gewogen. Der Fund, der in Darmstadt fachgerecht untersucht wurde, hielt als „Rheinelefant“ in der Paläontologischen Literatur Einzug.
In die Chaussee-Gegend (der heutigen straßenverkehrsreichen Frankfurter Straße) zogen dann auch Heinrich Buff (ein Physiker) und Justus von Liebig mit seiner Familie (hinter ihren Häusern wurden selbstverständlich Labore eingerichtet). Auf den Seltersberg kehrte (auch baulich) immer mehr Leben ein. Unter anderem auf Initiative Liebigs entstand eine längst überfällige Wasserleitung und 1840 wurde die neue katholische Kirche geweiht. Es entstanden medizinische Institute, es gab Ausflugslokale wie den Loosschen Felsenkeller. Das Liebig-Laboratorium an der heutigen Ecke Liebigstraße/Bahnhofstraße wurde nach und nach erweitert.
Werner Schmidt erläuterte: Es ist Prof. Robert Sommer (Leiter der Psychiatrischen Klinik vom 1895 bis 1933) wesentlich zu verdanken, dass es an dieser Stelle heute das Liebig-Museum gibt. Wie der Vorsitzende der Liebig-Gesellschaft, Prof. Dr. Eduard Alter, unterstrich, ist man bestrebt, dass dieses Museum als Weltkulturerbe eingetragen wird. Diesen Wunsch begrüßten die Zuhörer ausdrücklich, die für den Referenten und seinen Vortrag langen Applaus spendeten.