Vorwürfe gegen Ovag und Wasserverband
Es hätte nicht sein müssen, findet Wilhelm Fritzges. Der langjährige Vorsitzende der Natur- und Vogelschutzgruppe Lindheim ist richtig sauer. Zum einen flutete der Wasserverband Nidder-Seemenbach jüngst ohne Not das Naturschutzgebiet „Im Russland“, schimpft Fritzges. Dabei gingen mindestens sechs Kiebitz-Gelege unter – und das Nest des einzigen Brachvogel-Brutpaares in Hessen. Zum anderen beseitigt die Ovag Storchennester auf den Strommasten.
Vertriebene Störche
Am Freitag, den 13. April 2018 regnete es mächtig. Das Wasser bedeckte schnell die Wiesen im Rückhaltebecken des Seemenbachs bei Düdelsheim in der Wetterau. Es hätte noch mehr aufnehmen können – doch der Seemenbach wurde nicht weiter gedrosselt. So flutete er schnell auch das unterhalb zwischen Lindheim und Hainchen liegende Naturschutzgebiet „Im Russland“. Die Vogelschutzgruppe betreut da 40 Hektar Wiesen. Ihr Gründungsvorsitzender Wilhelm Fritzges musste hilflos zusehen, wie die Gelege der Bodenbrüter absoffen. „Wenigstens sechs Kibitzpaare sind erledigt“, klagt der 1940 geborene Vogelschützer. Die grün-braun gesprenkelten Eier des einzigen hessischen Brachvogel-Brutpaares habe man nicht mal vor den Fluten retten dürfen. Fraglich sei, ob die Vögel mit den langen gebogenen Schnäbeln nun noch einen Brutversuch unternehmen.
Dabei war doch klar, dass es nur einen Tag lang regnete, beklagt sich der Vogelschützer. „Der Wasserverband hat ein Pegel-Steuerwerk. Die hätten den Seemenbach peu a peu ablassen können.“ Man habe wohl vermeiden wollen, das Düdelsheimer Becken voll aufzustauen, um Entschädigungen an die Landwirte zu vermeiden.
Der Wasserverbands-Geschäftsführer Matthias Flor widerspricht. Die Flutung des Naturschutzgebietes sei alternativlos gewesen. „Wir wussten nichts von der Brutsituation. Aber wenn wir sie gekannt hätten, wäre es auch nicht anders gegangen.“ Die Pegel-Steuerung passiere nach festen Regeln. Am wichtigsten sei für den Wasserverband, dass Regenfluten niemals die Ortschaften überschwemmen. Vermeiden musste man am vorletzten Freitag auch, dass die Vorfluter (also die Gräben in der Seemenbach-Aue) allzu voll liefen. Denn wenn das Wasser dort stehen bleibe, gebe es wieder eine Schnakenplage. „Deswegen ließen wir den Seemenbach ab – auch weil nach dem Regen noch Nachlauf zu erwarten war.“ In der Tat führten die Seeme, die bei Lindheim von Norden kommende Nidder und auch die Nidda Wassergräben noch eine Woche nach dem heftigen Regen mehr Wasser als normal.
Am 19. April passierte das zweite Ärgermis. Kräftige Männer tauchten mit Hubwagen im Naturschutzgebiet auf und stießen mit langen Stangen fünf Storchennester von den Stromleitungsmasten der Ovag. Auf einem dieser Nester brüteten bereits Störche, so Fritzges und die Untere Naturschutzbehörde des Kreises. „Wer hat Euch das erlaubt?!“ fragte Fritzges die Nest-Abräumer. „Unser Chef!“ hätten die Männer geantwortet. Und dann gab es ein deftiges Wortgeplänkel, berichtet der aufgebrachte Vogelschützer.
Die Ovag solle lieber wirksame Nestbau-Verhinderungsapparate auf ihren Strommasten einsetzen als die bislang wirkungslosen „Büschelabweiser“ aus dünnem Draht, meint Wilhelm Fritzges. Die Ovag hat auch mit Plastikrohren experimentiert, auf denen die von den Störchen abgelegten Zweige aber nicht wie gewünscht abrutschen. „Auf dem Markt gibt es leider kein wirksames Produkt“, bedauert Stefan Bauer aus der zuständigen Ovag-Abteilung. So bleibe nur die Beseitigung der unfertigen Nester mit den langen Stangen. Alle zwei Tage kontrolliere man momentan die Hochspannungsleitungen in den Storch-Brutgebieten, erzählt Ovag-Sprecher Andreas Matlé. Und wo man unfertige Nester auf den Masten entdecke, räume man sie mit behördlicher Erlaubnis ab. Es seien dabei keine angebrüteten Eier vernichtet worden, so Matlé. Das Unternehmen habe fünf Masten mit Unterlage für die Störche neu aufgebaut. Davon seien vier gleich angenommen worden. Das berichtet Michael Elsaß für die Untere Naturschutzbehörde, die das Vorgehen der Storchen-Vergrämer von der Ovag für akzeptabel hält.
Warum dürfen die Störche nicht auf den Betonmasten brüten? Stefan Bauer: „Die Nester werden so groß, dass die Zweige die spannungsführenden Kabel berühren können. Wenn es dann regnet, leitet das nasse Holz den Strom. Die Vögel sitzen da auf 20 000 Volt und sind dem Tode geweiht.“ Außerdem verursache ein Überschlag Störungen im Stromnetz, die man vermeiden müsse.
Die Störche sehen das nicht ein. Schon einen Tag nach der Vernichtung der Nester standen die langbeinigen Frosch-Liebhaber erneut auf den Betonmasten. Und wer durchs Fernglas guckte, entdeckte auch schon die ersten Zweige.
Mehr Störche als jemals zuvor
Genau 99 brütende Storchenpaare zählt die Untere Naturschutzbehörde momentan im Wetteraukreis. „So viele gab es hier noch nie. Wahrscheinlich nicht einmal früher, vor den Weltkriegen“, sagt Behörden-Sprecher Michael Elsaß. „Jetzt kommen wir langsam an eine Grenze, wo es Sinn macht, keine weiteren Nisthilfen aufzustellen.“ Weil sonst zu wenig Nahrung für die Störche in den Auen zu finden sei.
Für den Vogelschützer Wilhelm Fritzges ist das Gerede von der Storchen-Überbevölkerung Unsinn. Es stimme einfach nicht, dass die großen Vögel nun auch junge Hasen und Kaninchen töten und fressen. „Das tun die Marder. Der Storch holt sich Mäuse und Würmer, und davon gibt es jede Menge.“ In und bei Lindheim zählen die Vogelschützer neun Brutpaare, mehr als jemals zuvor. Zwischen 1979 und 1997 gab es gar keine brütenden Störche in der Gegend. Um das zu ändern, kaufte die 1973 von Wilhelm Fritzges mitgegründete Vogelschutzgruppe in den Achtzigerjahren 40 der 220 Hektar umfassenden Auen in der Lindheimer Nachbarschaft. Dort dürfen die Landwirte nur dann Gras mähen, wenn die am Boden brütenden Vögel ihren Nachwuchs schon aufgezogen haben. Die 200-köpfige Vogelschutzgruppe passt auf, dass gerade jetzt niemand die Brutwiesen betritt. Die hindurch führenden Wege sind gesperrt. Bis zu viermal am Tag schaue er nach, berichtet Fritzges. Und wenn dort trotzdem jemand seinen Hund frei laufen lässt, gibt es ein Donnerwetter. Der Vogelschützer ist ohnehin frustriert, weil der Staat seiner Meinung nach mehr machen müsste, um die Feuchtgebiete zu schützen: „Seit vier Jahren warten wir schon auf die Novellierung der Naturschutz-Verordnung. Aber da tut sich nichts!“ Sie soll das Betretungs-Verbot für Naturschutzgebiete ganzjährig ausweiten. Und es nicht wie jetzt nur zwischen dem 13. März und dem 15. Juli ermöglichen.
Auf der Webseite vogelschutz-lindheim.de gibt es eine Storchenkamera. Da sind Wilma und Wilhelm live beim Brüten zu beobachten. Ihr Nest sitzt auf einem Schornstein des Hofes Westernacher. Wilhelm, der einst im Hessenpark geboren und beringt wurde, ist mittlerweile 28 Jahre alt. Er verbringt auch die Winter in Lindheim und wird dann von den Vogelschützern mit Eintagsküken durchgefüttert.