Varieté

Extrem spannend

Von Klaus Nissen

Dies ist ein Tipp: Wer noch an eine Karte für das Ovag-Varieté in Bad Nauheim kommt, sollte sie kaufen und hingehn. Bei der Vorstellung vergaß ich manchmal vor Spannung, zu applaudieren. Die oft sehr gefährlich wirkenden Auftritte der 40 Artisten sind sehenswert und atemberaubend. Ich habe aus der Loge heraus einige fotografiert.

Zuschauerrekord im Varieté

Seit 20 Jahren organisiert Andreas Matlé mit seinen Leuten vom Veranstaltungsteam des Gas-, Strom- und Wasserversorgers Ovag nun stets im Januar das Varieté. Es fing klein an. Doch inzwischen schafft er es, zweimal pro Tag nahezu alle Sitze im großen Jugendstil-Theater des Hotel Dolce in Bad Nauheim mit Besuchern zu füllen. In diesem Jahr wurden rund 35 000 Tickets verkauft, so der Veranstalter. Mehr als jemals zuvor.

Yulia Rasshivkina ist eine Hula Hoop-Virtuosin. Am Ende ihrer Show wirbelt sie 58 Reifen gleichzeitig um ihren schlanken Körper. Die Artistin wurde in Russland geboren und lebt in Den Haag.

Noch bis zum 4. Februar laufen die Vorstellungen. Die meisten sind ausverkauft – mit Glück kann man Restkarten bekommen. Auf den Portalen Reservix und Adticket ist aktuell noch ein kleines Kontingent für den 18. und 19. Januar erhältlich. Die Karten kosten zwischen 37 und 41 Euro. Auf der Ovag-Webseite läuft bereits der Kartenvorverkauf für 2025. Auch das Programm des nächsten Jahres ist bereits abrufbar.

Im Jahr 2024 sind 40 Akteure aus 19 Nationen auf der Bühne. Wer durchs Programm blättert, merkt, dass besonders viele Artisten aus der Ukraine kommen. Es scheint dort eine besondere Tradition dieses Berufs zu geben, in dem man die Perfektion anstreben muss.

Die Ukraine hat eine Staatliche Zirkus-Akademie. In Kiew studierten Yevheniy Lekhyy Lisi und Mykola Horbatiuk schon in jungen Jahren bei Professor Alex Bilogub. Die beiden Clowns liefern nicht nur Klamauk, sondern auch Treffsicherheit.

Mykola Horbatiuk

Der Eine wirft einen Tennisball aus der hinterstens Ecke des Saales über die Köpfe des Publikums hinweg. Der andere neigt auf der Bühne seinen Kopf mit dem oben offenen, sehr hohen Zylinderhut. Und fängt den Ball ein. Später jonglieren die beiden mit Papp-Pizzas und spielen mit Apfel und Flitzbogen die Tell-Saga nach. Aus der gefährlichen ersten Zuschauer-Reihe holen sie einen Mann nach vorn, ziehen ihm riesige Boxhandschuhe über und zwingen ihn, in den Kampf zu gehen.

Die vier starken Männer von „Crazy Flight“ kommen aus der Ukraine, touren aber seit Jahren durch die ganze Welt. Sie wirken etwas verwirrt, als ob sei aus einer Irrenanstalt entwicken sind. Sind aber extrem fokussiert und kraftvoll beim Bau ihren Menschenpyramiden.

Crazy Flight

Die Sängerin Simone Stiers fungiert in dieser Saison als ansagerin der Varieté-Nummern. Zwischendurch singt sie gefühlvolle Chansons. Man mag sie mögen oder nicht – optisch ist Stiers wie jeder andere Auftritt bemerkenswert. Die Lichttechniker haben in dieser Saison keinen Aufwand gescheut. Schnelle, farbige, mit der Musik abgestimmte Lichtkanonaden zucken immer wieder über den Köpfen des Publikums hinweg.

Einige Nummern sind nach meinem Empfinden echte Geschmackssache. Die hübsche junge Portugiesin Eonys Goncalves umschlingt im schwarzen Negligé eine Poledance-Stange, die wie ein Mast aus einer weißen Badewanne ragt. Auch da ist Kraft und Akrobatik zu sehen. Aber mir erschließt sich nicht, was eine Poledance-Stange mit einer Badewanne zu tun hat. Die erotische Konnotation stört mich an diesem Ort. Und ich bin auch nicht besonders beeindruckt, als für drei Sekunden echtes Wasser aus dem Brausekopf strömt.

Mad Max mit Messern

Muss man in einer Varieté-Show wirklich mit spitzen Messern durch die Gegend werfen? Der tätowierte, im Mad Max-Outfit erscheinende Brasilianer Alfredo verfehlt seine junge, schöne, im Sado-Maso Kostüm knapp bekleidete Partnerin Aleksandra immer wieder nur knapp. Einmal stülpt sie ihm einen schwarzen Sack über den Kopf und dirigiert den Wurf mündlich. Die Messer landen zehn bis zwanzig Zentimeter neben der schlanken Frauen in der Holzplatte. Rein statistisch gesehen dürfte das in mehreren hundert Auftritten irgendwann auch mal schiefgehen.

Trinh Tra My aus Vietnam stellt sich ein Schwert auf das im Mund gehaltene Küchenmesser und balanciert darauf ein Tablett mit Gläsern. Dann klettert sie ein gelbes Tuch hinauf und vollführt komplizierte akrobatische Spagate.

Die Tier-Nummern waren in der Bad Nauheimer Varieté-Reihe stets dünn gesät. Am eindrucksvollsten noch vor etlichen Jahren war die Seelöwen-Dressur. 2024 gibt es eine hektische Pudeldressur mit schrecklich frisierten Hündchen und einige weiße Tauben, die der finnische Zauberer Jay Niemi auf unerklärliche Weise aus seinem Ärmel holt. Eine Taube entfleucht und verfolgt die weitere Show von der hoch oben hängenden Lampentraverse aus. Niemi lässt seine Partnerin Jade Devine – eine frühere Star-tänzerin des Moulin Rouge in Paris – in einem Kasten verschwinden, den er dann Stück für Stück abbaut. Es wäre wirklich interessant zu wissen, wie er das macht.

Schon in einer früheren Saison gastierte die russische Sandkünstlerin Polina Sayfudinova in Bad Nauheim. Diesmal lässt sie Sand aus der rechten Hand rieseln, das über den Projektor plötzlich Liebespaare in einer romantischen Landschaft darstellt. Eine extrem kurzlebige und kurzweilige Kunst. Gerne wieder!

Vladimir Omelchenko auf einem kippeligen Konstrukt.

Dann ist da noch der „derzeit beste und gefrageste Rola-Rola-Artist der Welt“, wie es im Programmheft heißt. Der junge Ukrainer Vladimir Omelchenko stellt sich Seilhüpfend auf ein Brett, das er gleichzeitig auf einem metallenen liegenden Rohrstück in der Balance hält. Später baut er aus Metallelementen einen Turm mit zwei gegeneinander versetzten Wackel-Achsen. Und du fragst dich, wie der Artist überhaupt hinauf steigen kann. Er versucht dann noch vier Keulen zu jonglieren. Es klappt in dieser Aufführung nicht. Trotzdem gibt es fetten Applaus.

Eine etwas neuere Artistiksparte ist das Herumfahren mit kleinen Rädern auf unmöglichen Pisten. Wir kennen es von den Red Bull-Videos. Im Varieté hüpft der Italiener Jonathan Rossi aus dem Stand über eine auf die Bühne gelegte Zuschauerin. Simpel und atemberaubend zugleich. Wer so etwas nicht leibhaftig erleben will, sollte sich niemals in die erste Reihe setzen.

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