Stolpersteine

Gegen das Verdrängenstolper

von Ursula Wöll

In Heuchelheim bei Gießen hat der Künstler Günter Demnig Stolpersteine verlegt, um an die Opfer der Nazi-Diktatur zu erinnern. Landbote-Autorin Ursula Wöll hat sich die Aktion angeschaut und war bewegt. „Nicht nur mir kamen die Tränen“, schreibt sie.

Deportiert und ermordet

Heuchelheim ist eine kleine Gemeinde bei Giessen. Die Linden stolper1duften vor dem Fachwerk in der Bachstraße, die den Bieberbach säumt, bevor er in die Lahn mündet. Etwa 150 Menschen haben sich am 9. Juli hier versammelt. Der Künstler Günter Demnig, wie immer mit Schlapphut, kniet vor der Hausnummer 23 und verlegt drei Stolpersteine für Ludwig, Rosa und Herbert Schönberg. Ludwig hatte damals sein Eisernes Kreuz, das ihn als treuen Soldaten im Weltkrieg auswies, neben dem Judenstern getragen.  Geholfen hat es nicht. Er, seine Familie sowie acht weitere Heuchelheimer wurden 1941 und 1942 deportiert und ermordet. An sie alle, an ihre Angst,  wird an diesem schönen Sommertag durch die kleinen Messingplatten mit Namen und Daten vor ihren einstigen Wohnhäusern erinnert.

„Wir wollen sie in erinnerung behalten“

Nachdem Stefanie Dithmar auf der Querflöte gespielt hat, spricht stolper4Bürgermeister Burkhard Steinz von der CDU (Bildmitte) ): „Mit der Verlegung der Stolpersteine erinnern wir an das individuelle Schicksal der einzelnen Menschen, welche deportiert und umgebracht wurden – in Heuchelheim waren das Juden und ‚Euthanasie‘-Opfer. Wir wollen sie in Erinnerung behalten, damit solche Verbrechen nie wieder vorkommen“.

Betonsteine mit Messingplatte

Bereits vor einem Jahr hatten alle sechs Fraktionen der Gemeindevertretung der Verlegung zugestimmt. Der Antrag war von den Kirchen und einer Stolperstein-Initiative gestellt worden. Aber erst jetzt konnte Günter Demnig kommen. Er reist von Termin zu Termin. Mittlerweile hat er etwa 58 000 dieser Erinnerungssteine stolper6verlegt, und zwar in 20 Ländern, die von den Nazis damals besetzt waren. Das fing 1990 an, als der Künstler mit einer roten Farbspur den Todesweg der Sinti und Roma zum Deportationsbahnhof Köln-Deutz nachzeichnete. Daraus entstand die Idee der Einzementierung der 10 x 10 cm Betonsteine mit der Messingplatte. Vielleicht aber brauchte Demnig auch mal etwas Zeit für sich? Er wird von seiner Frau assistiert, und auf seinem Kastenwagen steht: „Just married – K+G“.

„… da kommen nicht nur mit die Tränen“

Als dann nach der Bürgermeisterrede die 1928 geborene Gertrud stolper5Wiegand im Rollstuhl vorfährt, Blumen niederlegt, sich an die schöne Freundschaft mit „Tante Rosa“ erinnert und auch noch genau an den Tag, an dem sie die Schönbergs zur Sammelstelle ziehen sah, ohne etwas tun zu können, da kommen denn nicht nur mir die Tränen.

„Erst heute werden die Großeltern richtig beerdigt“

Anschließend läuft die Versammlung zur nächsten Verlegestelle in stolper8der Kinzenbacher Straße. Hier wohnte einst das Ehepaar Sally und Jenny Süsskind. Deren Nachkommen sind extra aus Israel angereist, „Weil erst heute eine richtige Beerdigung der Großeltern  stattfindet“. Hier tragen SchülerInnen der Wilhelm-Leuschner-Schule aus dem Buch „Otto“ von Toni Ungerer vor, das sie im Unterricht gelesen hatten. Es schildert am Schicksal eines Teddybären die furchtbaren historischen Geschehnisse der Hitlerzeit.

In Hadamar ermordet

Weiter geht es in die Giessener Straße 73, wo einst ebenfalls eine Familie Süsskind wohnte. Die Eltern und die beiden Töchter Hedwig und Paula wurden 1942 ermordet.  InIn der Wilhelmstraße wohnte einst Irmgardt Gernandt, die durch eine schwere Geburt Schäden davongetragen hatte. Aus einer Heilanstalt wurde sie 1941 nach Hadamar transportiert und dort sofort nach ihrer Ankunft ermordet. Da war sie 19 Jahre alt. Einige Häuser weiter wohnte der Installateur Franz Hofmann, der irgendwann in eine Phase mit psychischen Problemen rutschte und in die Heilanstalt Goddelau kam. Von dort wurde er ebenfalls mit einem ‚Grauen Bus‘ nach Hadamar gefahren und mit 32 Jahren dort ermordet. (In der Gedenkstätte Hadamar ist die Tötungsmaschinerie erhalten, ein Gedenkstein fordert auf: „Mensch achte den Menschen“.) Die Jugendlichen Su Kleinpell und Rica Dörner haben einen Brief an diese beiden ‚Euthanasie‘-Opfer verfasst, in dem sie sich in deren Ausgeliefertsein einfühlen, soweit das überhaupt möglich ist. Sie lesen ihn den 150 ZuhörerInnen vor, und man sieht wiederum einige Tränen fließen.

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Su Kleinpell und Rica Dörner haben einen Brief an diese beiden ‚Euthanasie‘-Opfer verfasst. (Fotos: Ursula Wöll)
Vor dem Rathaus versammelten die Nazis ihre Opfer

Zum Abschluss gehen alle vor das alte Rathaus in der Braubachstraße, vor das die Nazis damals ihre Opfer zitiert hatten, stolper12um sie zu deportieren. Hier spricht Walter Beppler, dessen Vater Otto ein enger Freund von Sally Süsskind war. Beppler steht dabei neben der Gedenktafel, die die Gemeinde bereits 1988 anbrachte. Er bleibt aber nicht beim Erinnern an die historisch Verfolgten  stehen. Er zieht Analogien zu den Flüchtlingen der Gegenwart, die – wie damals die Verfolgten – oft vergeblich ein Zufluchtsland suchen. So sollen Stolpersteine wirken. Nicht unsere Füße, sondern unser Kopf und unser Herz sollen zum Stolpern, also zum Denken und zum Mitgefühl, gebracht werden.

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