Wetterauer Geschichtsblätter

Randvolle Wundertüte

Von Bruno Riebgeschi1

Kriege, Gärten, mittelalterliches Strafrecht, Reformation,  Jugendstilarchitektur – der Band 64 der  Wetterauer Geschichtsblätter ist eine randvolle Wundertüte. Sogar Bestsellerautor Herfried Münkler ist drin. Er schreibt über Zuwanderung in seine Heimatstadt Friedberg: „Unsere Stadt – Unser Land – Unsere Welt. 2016 – die nicht einfache Gegenwart.“

Dem Täter die Augen ausbrechen

Die Vergangenheit war auch nicht so einfach. Schon gar nicht für die, die etwas ausgefressen hatten. Die bekamen es im 15. Jahrhundert mit dem Friedberger Rat zu tun. Der war nicht zimperlich. Der erwog in einem Fall im Jahre 1489, dem Täter „die Augen auszubrechen“. Oder ihn mit Ruten aus der Stadt zu hauen. „Eine deutlich mildere Bestrafung“, urteilt Reinhard Schartl. Der kennt sich mit Bestrafungen aus. Er ist Richter am Oberlandesgericht Frankfurt am Main. Für die Wetterauer Geschichtsblätter hat er die mittelalterlichen Friedberger Ratsprotokolle ausgewertet. „Wer die Handschrift der Friedberger Stadtschreiber in den Ratsprotokollen kennt, weiß die Arbeit des Autors umso mehr zu würdigen“, lobt Lutz Schneider vom Herausgeberteam der Geschichtsblätter. Die Protokolle sind in dem Buch ausführlich dokumentiert. Sie lesen sich so: „Als sich Eyn snyderknecht gnant Bestiann von Hune beclagt hait von snyder henne so wie In snyderhenne mit Eyme Spieß uff der gassen by abnt vmb vij vwern vngeuerlich dar nydder geslagen….“

Immerhin lockerte ein Stadtschreiber sein Protokoll durch eine kleine Zeichnung auf. Als 1486 zwei Frauen mit Rutenschlägen gestraft und „ausgehauen“ wurden, zeichnete er eine Rute ins Protokoll.

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Das Protokoll mit Rute

Gehauen wurde viel, mit dem Tode bestraft weniger. „Die Ratsprotokolle erwähnen das Hängen nur selten, so als ein Knecht „zu hengen gefangen gelegt“ worden war.“, schreibt Schartl. Die Stadt beschäftigte folglich keinen eigenen Henker, sondern holte den aus Frankfurt, wenn es zu „Züchtigen“ galt.  Gegenüber den Friedberger Bürgern sei der Rat Nachsichtiger gewesen als gegen Fremde. „Gegenüber Auswärtigen wurde viel härter zugeschlagen, mit den eigenen Bürgern ist man viel milder umgegangen“, sagte Schartl bei der Buchvorstellung.

Schon immer Zuwanderung

Dabei war die Stadt schon immer auf Zuwanderung angewiesen, wie Münkler in seinem Beitrag schreibt. „Im Unterschied zum Dorf ist die Stadt von Anfang an immer auch ein Ort des Zusammentreffens von Fremden gewesen, ein Raum, in dem sich die Menschen in ihrer Fremdheit miteinander arrangieren mussten – ob sie das wollten oder nicht. Oder anders formuliert: Die Stadt war in den Phasen ihrer Prosperität kein Ort, der sich allein und ausschließlich biologisch reproduzierte, sondern sie  war von Anfang an auf soziale Reproduktion, also auf  Zuwanderung angewiesen.“

Als die Tuchproduktion in Friedberg florierte, wuchs die Einwohnerzahl vom 13. zum 14. Jahrhundert auf etwa 4000 an. Im 15. Jahrhundert bricht die Tuchproduktion zusammen, die Bevölkerung schrumpft auf ein Viertel, also rund 1000 Einwohner. „Fremde kommen kaum noch in die Stadt“, schreibt Münkler. Er spannt dann den Bogen vom damaligen Friedberg zum heutigen, zu Deutschland und Europa. „Die Bevölkerung Europas vermag sich nicht mehr zu reproduzieren“, stellt er fest und folgert: „Wir sind also auf Zuwanderung angewiesen, d.h. auf soziale Reproduktion, die die biologische Reproduktion ergänzen muss: Im Falle Deutschlands geht es pro Jahr um 700.000 bis 800.000 Menschen – freilich solche, die für den deutschen Arbeitsmarkt geeignet sind.“ Es komme auf „eine Strategie der Befähigung bei den Flüchtlingen an, um sie mittelfristig aus einem Kostenfaktor des Sozialsystems in einen dieses System tragenden Teil zu verwandeln“.

Nach Spuren des Vaters gesucht

Um einen Fremden, der sich nicht ganz freiwillig in der Wetterau geschi3aufhielt, das aber auch von einem Kostenfaktor zu einem tragenden Teil des Sozialsystems wurde, geht es in einem anderen Beitrag: Der Franzose Noel Fraboulet hat nach seinem Vater Francis geforscht, der am 7. Juni 1940 als Kriegsgefangener nach Deutschland kam. Francis Fraboulet war Landmetzger gewesen. Während seiner Gefangenschaft in der Wetterau musste er in Metzgereien arbeiten, unter anderem in Ilbenstadt. „Seine Briefe berichten nicht über Misshandlungen, weit gefehlt“, schreibt sein Sohn und zitiert aus den Briefen seines Vaters. „Ich bin in einem sehr guten Haus. Der Vater macht den Wagenbau, und ich mache die Landwirtschaft. Ich werde mit dem Pferd Holz holen. Mir geht es sehr gut, sehr gutes Essen, wie ich es noch nie auf einem  Hof erlebt habe. Die Mutter bereitet es zu.“ Oder: „Ich arbeite bei einem Wildbrett-Händler. Er handelt nur mit Rehen, Hasen, Kaninchen. Die Arbeitgeber sind sehr nett“. Am 30. Juli 1944 schreibt er: „Ich habe einen entzündeten Finger. Er tut mir ein bisschen weh.“ Er hat sich an Wundstarrkrampf infiziert. Am 26. August 1944 stirbt er im Kriegsgefangenen-Lazarett in Bad Soden-Salmünster.

Seinen Sohn führt die Spurensuche zu den Familien, bei denen sein Vater untergebracht war. Er besichtigt die Werkstätten und Ställe, in denen sei Vater gearbeitet hat. „Wir sind wie Freunde empfangen worden und haben Informationen erhalten, die wir noch nicht kannten“, schreibt Noel Fraboulet. Er fragt aber auch: „Aber was hatten diese unglücklichen ‚Kriegsgefangenen‘ eigentlich verbrochen, um Jahre in der Gefangenschaft verbringen zu müssen?“

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Johannes Kögler, Lothar Kreuzer, Reinhard Schartl und Lutz Schneider (von links) vom Herausgeberteam stellen Band 64 der Wetterauer Geschichtsblätter vor.
Bad Nauheim wird Lazarettstadt

Um den anderen großen Krieg, den Ersten Weltkrieg, geht es in einem weiteren Beitrag. Herbert Pauschardt hat aufgezeichnet, was sich zu Kriegsbeginn in Bad Nauheim abspielt, der Wetterauer Stadt, für die Fremde ganz besonders wichtig waren. Er berichtet von etwa 140 US-Bürgern, die in der Badestadt festsaßen  und „nach Vermittlung des amerikanischen Gesandten endlich mit großem Bahnhof vom Bürgermeister und vom Chef der Bade- und Kurverwaltung sehr herzlich verabschiedet wurden“. Die russischen Kurgäste im Weltheilbad wurden weniger zuvorkommende behandelt. „Nicht so gut erging es den etwa 2500 Russen, die seit etlichen Jahren die größte Gruppe der ausländischen  Kurgäste in Bad Nauheim stellten und noch auf Ausreise warteten. Sie mussten sich sogar bis zum 23. September gedulden“, schreibt Pauschardt. Die Kurstadt wurde bald nach Kriegsbeginn Lazarettstadt. Der erste Transport mit Verwundeten aus Schlachten in Frankreich und Belgien traf am 27. August 1944 ein. Laut Bad Nauheimer Zeitung vollzog er sich „sehr glatt“. Die vielen Bahren, Kutschen und Autos hätten ermöglicht, „dass die etwa 100 Verwundeten in einer Stunden in ihren Betten im Konitzkystift lagen“.

Lust- und Gemüsegärten

Nach so viel Krieg tut ein Ausflug in die Gärten der Region gut. Bernd Vielsmeier führt uns zu ausgewählten Parks, den Butzbacher Lustgarten etwa. Landgraf Philipp ließ ihn 16.15 auf einer 8,5 Hektar großen Fläche errichten. „Für die Gestaltung seines Schlossgartens dürften ihm die Renaissancegärten, die er auf seinen Bildungsreisen in Italien kennengelernt hatte, Vorbild und Anregung gewesen sein“, schreibt Vielsmeier in seinem Beitrag „Gärten und Parks in der Wetterau und ihre Gärtner“.

Die Herrscher jener Zeit unterhielten auch Küchengärten. „Für das Ortenberger Schloss liegt die Beschreibung für die Anlage eines Gemüsegartens aus der Renaissancezeit vor. Der Ertrag aus den angebauten Gartengewächsen auf dieser Fläche deckt den jährlichen Bedarf von drei Familien“, berichtet Vielmeier. In den trockenen Befestigungsgräben der Städte und Burgen wurde Reh und Damwild gezogen, um das Gras kurz zu halten und Fleisch für Notzeiten zu haben. Straßen- und Flurnamen wie Hirschgarten oder Hirschgraben erinnern daran, schreibt Vielsmeier.

Weitere Beiträge des Bandes sind: Holger Th. Gräf: Die Reformation in der Region – Von der Territorialisierung zum „Zwang zur Toleranz“?, Siegmund von Grunelius: Die zur Steuer herangezogenen Einwohner Ossenheims in der Zeit von 1595 bis 1625, Carl Ehrig-Eggert: Zwei Friedberger Pfarrer und ihre Predigten zum Ende des 30jährigen Krieges, Britta Spranger: Erinnerungen an den Darmstädter Architekten Heinrich Petry, Lothar Kreuzer: Vereinschronik des Friedberger Geschichtsvereins 2010-2015.

Wetterauer Geschichtsblätter Band 64, 342 Seiten, 29,80 Euro. ISBN: 978-3-87076-118-9

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