Eine lange vergessene Pandemie
von Ursula Wöll
An der Spanischen Grippe starben vor rund 100 Jahren zwischen 20 Millionen und 50 Millionen Menschen. Landbote-Autorin Ursula Wöll erinnert an diese verheerende Pandemie und fragt nach Paralleln zur Corona-Pandemie heute.Die freundliche Tote
Vor vielen Jahren besuchte ich die Kapuzinergruft in Palermo, in der man zwischen hunderten von sehr alten mumifizierten Leichen spaziert. Unter ihnen ist auch die kleine Rosalia Lombardo, die auf eine spezifische Art konserviert wurde. Daher sieht das Kind bis heute so aus als schliefe es friedlich. Doch Rosalia starb am 6. Dezember 1920, also vor nun 100 Jahren. Sie starb an der Spanischen Grippe, eine Woche vor ihrem zweiten Geburtstag. Diese Pandemie raffte von 1918 bis 1920 weltweit viele Millionen dahin. An das schöne Kind mit der Schleife im Haar erinnere ich mich bis heute gut. Es repräsentiert den Tod derart freundlich, dass die Angst vor dem eigenen Tod und aktuell vor dem Corona-Virus nur auf Sparflamme köchelt.
Pandemien als apokalyptische Reiter
Früher war alles besser? Ja vieles, aber nicht alles. Die großen Pandemien Pest, Cholera, Pocken undTyphus, auch HIV und Ebola waren weit tödlicher als Corona heute. Das gilt auch für die Spanische Grippe, die weltweit zwischen 1918 und 1920 wütete. Ihren Namen erhielt sie, weil der spanische König Alfonso als einer der ersten im Mai 1918 an dieser neuartigen Influenza erkrankte. Die Krankheit wurde schnell zur Pandemie und raffte in den folgenden beiden Jahren mindestens 25 Millionen Menschen dahin. Und das bei einer damaligen Weltbevölkerung von nur 1,8 Milliarden! Manche Medizinhistoriker vermuten sogar mehr als 50 Millionen Tote weltweit. Vor allem Leute im ‚besten‘ Lebensalter zwischen 20 und 40 Jahren fielen der Spanischen Grippe zum Opfer. Stefan Zweig notierte im Oktober 1918 in sein Tagebuch: „Eine Weltseuche, gegen die die Pest in Florenz oder ähnliche Chronikgeschichten ein Kinderspiel sind. Sie frisst täglich 20000 bis 40000 Menschen weg.“ Der Schriftsteller spielte auf seinen Kollegen Boccaccio an, der um 1350 die damalige Pestpandemie in seinem „Decamerone“ thematisiert hatte. Er erzählt von zehn jungen Leuten aus Florenz, die vor der großen Pestpandemie zwischen 1347 und 1354 in ein Landhaus vor den Toren von Florenz geflüchtet waren. In der Einleitung schildert Boccaccio die Zustände in der Stadt selbst. Nur die Reichen konnten ja vor dieser Beulenpest, dem ‚Schwarzen Tod‘ fliehen. So wuchsen die Leichenberge in den Gassen, weil es an Leuten fehlte, die Toten zu begraben. Das Trauma dieser globalen Epidemie trug zur Veränderung der Gesellschaft bei, die ihre spätmittelalterlichen Werte gegen solche der Neuzeit tauschte. Die Pest raffte damals ein Drittel der Weltbevölkerung dahin. Sie grub sich ins kollektive Gedächtnis der Menschheit ein. So schuf Albrecht Dürer noch 150 Jahre später, 1497, seinen Holzschnitt ‚Die vier apokalyptischen Reiter‘. Derjenige mit dem Pfeil soll die Pest symbolisieren. Und der Maler Werner Tübke vergaß nicht, auf seinem großen Panoramabild von 1987 in Bad Frankenhausen die spätmittelalterlichen Pestkranken zu verewigen.
Die Spanische Grippe wurde verdrängt
Anders erging es der Spanischen Grippe. Sie hinterließ bislang kaum Spuren in der Geschichtsschreibung, in Literatur und Kunst. Seit Corona achte ich bei der Lektüre historischer Texte darauf, ob ich Hinweise auf die Spanische Grippe finde. Aber sie scheint nicht existent in den Darstellungen dieser nun 100 Jahre zurückliegenden Zeit. Warum? Vielleicht weil ihr die Schrecken des Ersten Weltkriegs unmittelbar vorausgingen? In ihm verloren immerhin bereits 17 Millionen ihr Leben. Da waren die Menschen 1918 nach dem Kriegsende mit der Bewältigung des Hungers, der Trauer um die Gefallenen und der politischen Wirren so beschäftigt, dass sie die globale Epidemie offenbar als Naturereignis abbuchten. Erst seit kurzem fällt diese Geschichtslücke auf. So hat die Britin Laura Spinney 2017 ein Buch mit dem Titel ‚1918 – Die Welt im Fieber – Wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte‘ veröffentlicht und der Medizinhistoriker Harald Salfellner das Buch ‚Die Spanische Grippe: Eine Geschichte der Pandemie von 1918. Im Vergleiich mit Covid-19′. In allen Bibliotheken sind beide ausgeliehen. Nicht nur die Zeitschrift DER SPIEGEL hat also gewisse Parallelen zwischen damals und heute gezogen.
Parallelen zwischen damals und heute
Doch keine Bange. Die Spanische Grippe trat zwar auch in Wellen auf, damals in drei Wellen, wobei die zweite Welle die meisten Opfer forderte. Das Virus war aber weit aggressiver als das heutige. Damals hatte man den winzigen Bösewicht noch gar nicht entdeckt, da er zu klein für die damaligen Mikroskope war. Doch es war offensichtlich, dass man sich gegenseitig ansteckte. Auch damals trug man daher Mundschutz, wenn auch nur vereinzelt. Wahrscheinlich kam die Spanische Grippe aus Amerika und wurde durch die Landung der US-Soldaten nach Europa verschleppt. Bekanntlich traten die USA 1917 in den Weltkrieg ein, und als der amerikanische Präsident Woodrow Wilson zu den Friedensverhandlungen nach Paris kam, bekam er prompt hier die Spanische Grippe. Geht man einmal davon aus, dass Präsident Trump tatsächlich corona-angesteckt war, so erschöpft sich für meine Begriffe die Gemeinsamkeit beider Pandemien damit, dass sie US-Präsidenten befielen. Noch erhöht hat sich heute die Mobilität rund um den Globus. Die Europäer brachten die Seuche damals in ihre Kolonien, so dass eine Pandemie aus ihr wurde. Heute sind die Transportmittel weit perfekter. Da sind Reiseverbote und Quarantänen sicher sinnvoll. Die Quarantäne hatte man übrigens schon während der Pestepidemie erfunden. Schiffe, die Häfen wie Venedig anliefen, mussten 40 (quarante) Tage vor dem Einlaufen auf See ankern. Vergeblich: Man wusste nicht, dass der Pestbazillus von Flöhen übertragen wurde, die auch im Rattenfell wohnten. Und die Ratten liefen mit ihren Flöhen über die Ankerseile an Land.
Liest man in Biografien von Schriftstellern oder Künstlern, so stößt man dort ab und an auf die Spanische Grippe. Franz Kafka etwa, bereits lungenkrank, schaffte es, trotz oder wegen des hohen Fiebers zu überleben, wenigstens für einige Jahre. Der Soziologe Max Weber und der Maler Egon Schiele fallen mir ein, die an der Spanischen Grippe starben. Solange es noch keinen Impfstoff gibt, müssen wir wohl die Einschränkung an Freiheiten in Kauf nehmen. Hierzu kann man aus der Pandemie von annodunnemals lernen: Australien war angeblich das einzige Land, das von der Spanischen Grippe verschont blieb. Als Insel war es einfacher, sich zu isolieren. Was sich außer der geringeren Aggressivität der Corona-Krankheit noch geändert hat? Heute gibt es weit mehr Einpersonen-Haushalte als vor 100 Jahren. Die können sich zwar leichter isolieren, leiden aber auch auf Dauer sehr unter der fehlenden Kommunikation und dem Mangel an menschlichem Kontakt. Deshalb ein Hinweis: Überlegen Sie, liebe Leserin und lieber Leser, ob Sie eine alleinstehende Person kennen und greifen Sie mal zum Telefon. Das könnte nämlich vielleicht die gravierendste Spätfolge der Pandemie sein: Sie etabliert quasi hinter unserem Rücken eine andere Sicht auf den Mitmenschen, definiert ihn unbewusst als potentiell gefährlich und zerstört ein vertrauensvolles Miteinander auch außerhalb der Familie.