Milkana, 6, Flüchtling

Die Eltern blieben in EritreaMilkana

Seit Weihnachten 2014 ist die sechsjährige Milkana in Deutschland. Ihre Eltern blieben in Eritrea zurück. Jetzt soll das kleine Mädchen in Ilbenstadt heimisch werden. Die Caritas treibt großen Aufwand, damit zehn Kinder und Jugendliche hier ihr Flucht-Trauma überwinden können.

Milkana, 6, Flüchtling

Von Klaus Nissen

Es gibt einen Unterschied zwischen „normalen“ Heimkindern und solchen, die aus Krisenländern nach Deutschland geflohen sind: Um zehn Uhr abends kommt der Erzieher ins Zimmer und sagt: Hast Du jetzt endlich die Hausaufgaben gemacht? Bei den Flüchtlingskindern sagt er: Hör bitte mit dem Lernen auf und geh ins Bett! So erzählt es Joachim Tschakert, der oberste Heimleiter bei der Caritas in Gießen.

„Sie lernen unheimlich viel“, bestätigt Erzieherin Bianca Helle die Erfahrung ihres Chefs. Die Pädagogin hat momentan sieben Schützlinge. Milkana aus Eritrea ist mit sechs Jahren die jüngste, Younas aus Bangladesh mit 17 der Älteste. In Eritrea legt laut Helle oft die Dorfgemeinschaft ihr ganzes Geld zusammen, damit einzelne Kinder eine Zukunft in Europa suchen können. „Die sind alle supergut erzogen“, so die Erzieherin. Und froh, dass sie ein Dach über dem Kopf haben.

vl. Younas, Milkna und Nahom, dahinter Joachim Tschakert, neralvikar Dietmar Giebelmann. Foto Klaus Nissen
Caritasdirektor Joachim Tschakert und Generalvikar Dietmar Giebelmann (mit Schärpe) haben den Flüchtlingskindern Younas (17), Milkana (6) und ihrem Bruder Nahom (8) einen Platz zum Leben organisiert. Foto: Klaus Nissen

Das Dach gehört zu einer ehemaligen Arztpraxis am Köpperner Weg in Ilbenstadt. Es ist schon 13 Jahre her, dass Doktor Bieber hier die Zelte abbrach, erzählt ein Nachbar bei der Eröffnungsfeier des neuen Kinderheims. Der Eigentümer konnte anschließend mit dem Gebäude nichts rechtes anfangen. Dann kaufte die Caritas die wie ein groß geratenes Einfamilienhaus wirkende Immobilie aus den Siebzigerjahren. Und steckte viel Geld in den Umbau. Gut eine Million hat das Ganze gekostet, sagt Heimleiter Ulrich Dorweiler auf Nachfrage. Für jedes Kind, jeden Jugendlichen gibt es ein Einzelzimmer. Die Böden bestehen aus anthrazitfarbenen Schiefer-Fliesen, auch die Möbel und die beiden Bäder sind neu. Sogar die Türklinken sehen edel aus. Die beiden Küchen mit den freistehenden Kochzeilen sind geräumig. Die katholischen Gemeinden in der Wetterau und eine gerade 80 Jahre alt gewordene Dame haben sie gestiftet. Auch einen separaten Computerraum gibt es im Heim. Bald werden vier Flüchtlinge um die 18 in die separate Übergangswohnung einziehen.

Rund um die Uhr sind Betreuer da

Auch in der Betreuung der Flüchtlingskinder treibt die Caritas im Auftrag des Wetteraukreises großen Aufwand. Um die zehn Schützlinge kümmern sich jeweils zwei Betreuerinnen und Betreuer rund um die Uhr. Eine Hauswirtschafterin bekocht sie alle und hält das 600 Quadratmeter Nutzfläche fassende Haus sauber. Der Aufwand ist gerechtfertigt, sagte der Mainzer Generalvikar Helmut Giebelmann bei der Einweihung des Hauses: „Was ist das – eine Flüchtlingsheimat? Jemandem das Gefühl zu geben: Wir sind froh, dass Du da bist!“ Die Nachbarn und die ganze Bevölkerung bat der katholische Würdenträger um einen „Vorschuss an Zuwendung“ für die Kinder. Und zitierte den Apostel Paulus: „Seid geduldig mit allen. Und bemüht Euch, jedem Gutes zu tun!“

Milkanas Zimmer, Ilbenstadt. Foto Klaus Nissen
Milkana ist mächtig stolz, dass sie nun ein eigenes Zimmer hat. Foto: Klaus Nissen

Beim Anblick der gerade in Ilbenstadt eingezogenen Jugendlichen ist es freilich leicht, Gutes zu tun. Die kleine Milkana strahlte bei der Haus-Einweihung, dass einem das Herz aufging. Das zierliche Mädchen hüpfte herum und bestand darauf, dass alle ihr neues Zimmer besichtigen. Nebenan wohnt ihre erst 16-jährige Tante Aster, die Milkana und ihren achtjährigen Bruder Nahom irgendwie nach Deutschland gebracht hat. „Wir kennen die Fluchtgeschichten der Kinder noch nicht“, sagt Erzieherin Helle. „Erst nach sechs Monaten ungefähr sehen wir, welche Traumata sie erlitten haben.“ Von Milkana weiß Bianca Helle, dass sie sehr gerne eine Freundin hätte.

„Wir müssen wie Mama und Papa für sie sein“

Viele der Flüchtlingskinder haben Gewalt und manchmal sogar Missbrauch erlebt, berichtet der Diözesancaritasdirektor Thomas Domnick. Man bemühe sich, den Kindern psychologisch zu helfen. In diesen Chor stimmt auch der gelernte Pädagoge und aktuelle Kreis-Sozialdezernent Helmut Betschel ein: „Wir müssen den Kindern das Gefühl geben, dass sie hier zu Hause sind. Wir müssen so was wie Mama und Papa für sie sein.“

Das ist aber schwer. Der Staat ist ein Verwaltungsapparat. Er bezeichnet Kinder wie Milkana und Younas als UMF – unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Wenn sie in der überfüllten Erstaufnahme-Einrichtung an der Grünberger Straße in Gießen auftauchen, nimmt die Behörde sie beiseite und prüft zunächst intensiv, wie wie alt die Kinder sein könnten, welche Krankheiten sie haben und ob Verwandte im Lande leben oder ob ein Amtsvormund aus der Verwaltung bestellt werden muss.

Es kommen immer mehr solcher Kinder und Jugendlichen in diesen Übergangsstatus, berichtet Caritas-Heimleiter Ulrich Dorweiler. Gut 200 solcher „Übergangs-UMF“ betreut sein auf diverse Standorte verstreutes Kinderheim Sankt Stephanus. Das neue Ilbenstädter Heim ist übrigens das erste dieses Trägers in der Wetterau.

Die Behörden nennen solche Kinder „UMF“

Insgesamt leben schon etwa 500 Flüchtlingskinder bei Sankt Stephanus. Der Tagessatz zur Betreuung ist geheim, aber sicher deutlich höher als die Kosten zur Unterbringung erwachsener Flüchtlinge. So ist die Aufnahmebereitschaft der Caritas nicht nur christliche Nächstenliebe, sondern auch ein Umsatz bringendes Geschäft.

In ganz Hessen kommen immer mehr unbegleitete Flüchtlingskinder an. Von Januar bis Mai dieses Jahres waren es schon 1200 Jungen und Mädchen. Dem Wetteraukreis werden in diesem Jahr etwa 100 „UMF“ neu zugewiesen. Fünf Heimträger hat Helmut Betschel mit ihrer Betreuung beauftragt. Recht neu sind zwei Wohngruppen in Bad Salzhausen. Und im Jugendgästehaus Hubertus bei Bodenrod will der Sozialdezernent ab 2016 dutzende Jugendliche aufnehmen, die frisch angekommen sind und dann dauerhafte Wohnplätze in der Wetterau brauchen. Etwa 60 Kinder muss er noch in diesem Jahr unterbringen, sagt der Grünen-Politiker. Aber wo? Notfalls müssten die Kinder dann eben in Zweibettzimmern schlafen.

Die Kinder vom Köpperner Weg in Ilbenstadt ahnen davon noch nichts. Sie können vorläufig genießen, dass sie jetzt ein eigenes Zimmer haben. Sie lernen jetzt intensiv Deutsch. „Wir verständigen uns noch mit einem Gemisch aus Englisch, Italienisch, Deutsch und Händen und Füßen“, sagt Erzieherin Bianca Helle. Doch ihr Deutsch werde immer besser. Jeden Werktag fährt die kleine Gruppe selbstständig mit der S-Bahn zum Unterricht nach Frankfurt. Die beiden Kleinen Milkana und Nahom besuchen die Grundschule. Für die fünf Teenager gibt es  Plätze in der Friedberger Philipp-Reis-Schule. Die Heimleitung hat den Jungs einen Kontakt zum Sportverein im nahen Nieder-Wöllstadt vermittelt. Da kommen sie wohl ganz gut an, so die Erzieherin. Wer Fußball kann, findet Freunde.

Neues zur Situation der Flüchtlinge in der Wetterau hier.

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