Die Sucht
Von Klaus Nissen
Über Jahre hinweg war es eine Qual – das regelmäßige Joggen ums Dorf. Immer wieder fragte sich der Autor keuchend, warum er sich das antut. Dann verebbte der Schmerz, die Strecken wurden länger, die Kilos weniger. Und nun setze er sich sogar dem Wettbewerb aus.Vom Glück, beim Laufen zu schwitzen
Die Idee stammt vom Landbote-Kollegen Michael Schlag. Wir saßen Ende 2022 bei einem der als Redaktionskonferenz getarnten Kaffeekränzchen in der gemütlichen Küche unseres Chefredakteurs Bruno Rieb. Wie immer auf der Suche nach einer Idee, wie wir unser unscheinbares Online-Magazin bekannter machen könnten.
„Lass uns als Landbote-Team laufen“, schlug Michael plötzlich vor. „Wir können doch die schwarzen Landbote-T-Shirts anziehen und im März beim Wintersteinlauf Flagge zeigen!“ Michael, Jahrgang 1955 wie ich, ist einer dieser schlanken, schnittigen Leute, an denen sich keine Fettpolster ansiedeln können. Dauernd rennt er über die Feldwege seiner Butzbacher Heimat.
Suchtähnliche Sympathie für Schokolade
Das mache ich seit zwölf Jahren auch, allerdings in der Gegend von Wöllstadt. Das Joggen war anfangs Notwehr, denn ich gehöre zum Typ der super-effektiven Nahrungsverwerter. Ich muss ein Mittagessen nur angucken, um zuzunehmen. Hinzu kommt eine suchtähnliche Sympathie für Schokolade, Butterkekse, Waffeln. In den Jahrzehnten der Lebensmitte trug ich also ein Ganzkörper-Polster mit mir herum. Trotz der täglichen Pedaltreterei auf dem Weg zur Arbeit.
Anfangs schleppte ich mich alle zwei Tage ums Dorf herum, etwas mehr als zwei Kilometer. In erweitertem Gehtempo, bis zum Schlussanstieg hinter der Bachquerung. Da schmerzten in der Regel die Füße oder die Waden derart, dass ich eine Zwangspause einlegen musste. Oder langsam weitergehen, weil die Puste für die letzten fünf Höhenmeter nicht mehr reichte.
Im Laufe der Jahre wurde die Kondition ganz, ganz langsam besser. Um 2016 schaffte ich zwei Runden ums Dorf, meistens ohne anzuhalten. Um 2017 reichte mir das nicht mehr. Ich tüftelte einen Rundkurs zwischen Ober-Wöllstadt und Nieder-Rosbach aus, den ich seitdem stur jeden zweiten Tag vor dem Frühstück ablaufe. Auf dem Beton der Feldwege ist bereits eine Spurrille zu sehen. Der Bauer vom Schwalbenhof am Wege findet das irgendwie nicht gut. „Hast du eigentlich einen Führerschein für die Rennerei?“ fragte er neulich. Mir fiel leider keine schlagfertige Antwort ein.
Die Nachbarin, die ich manchmal beim Umräumen der Mülltonne treffe, fragt öfter mal besorgt nach dem Grund meiner Gewichtsabnahme. Könnte ja ein Krebs sein. Aber nein. Es ist nur der erhöhte Kalorienverbrauch. Trotzdem kann ich anders als Michael noch eine kleine Fettreserve halten. Und toll ist, dass ich immer so viel essen kann, wie ich Lust habe.
Endorphine und ein bisschen Gicht
Noch toller ist: Nichts tut mir mehr weh. Nicht der Rücken, nicht die Knie. Der Knorpel scheint mit der Beanspruchung zu wachsen. Nur der rechte große Zeh sticht, wenn ich am Vorabend mal zwei Biere trinke. Das sei die Gicht, meint die Liebste.
Seit einigen Jahren nehme ich die Laufschuhe auch auf Urlaubsreisen mit. Per App tüftele ich dann eine nette Strecke aus, etwa den Rundkurs um Cadiz. Oder die Exkursion aus der Altstadt von Orange aufs Land, die immer durchs römische Thriumphtor führt. 2021 entdeckte ich auf La Palma die Freuden des Berglaufs. Schon, weil es da keine Ebenen gibt. Bei El Paso kann man über einige knackige Steigungen auf die Landstraße nach Fuencaliente kommen – bis zu der Stelle, wo der neue Vulkan eine drei Meter hohe Lavahalde über die Straße schob. Ihre Wärme war noch deutlich zu spüren.
Nach der Rückkehr suchte ich alle zwei Tage nach einer Möglichkeit, bei Wöllstadt eine schöne Steigung zu finden. Fehlanzeige. Der Echzeller Wald ist zu weit weg. Und der Taunushang nach Wehrheim hinauf ebenfalls. Es ist affig, mit dem Auto zum Joggen zu fahren. So wie es die Gassigänger machen, am liebsten im SUV. Ich blieb beim Rundkurs nach Rosbach, legte mir zwei weitere Laufschuh-Paare zu. Vor allem Trailrunner mit starkem Profil, denn in der Zuckerrübenzeit liegt glitschiger Schlamm auf dem Beton. Und während der Winterregen muss ich häufig auf den Acker ausweichen, weil kleine Seen den Weg blockieren.
Die NSA kennt jetzt meine Herzfrequenz
Ich habe mir eine Sportuhr zugelegt und schere mich nicht darum, dass die Russen, die Chinesen und die NSA jetzt meine Herzfrequenz kennen. Ertappe mich dabei, wie ich an den lauffreien Tagen neidisch werde, wenn ich einen einsamen Jogger auf dem Feldweg sehe. Und finde mich dann bescheuert. Die Zahl der Läuferinnen und Läufer wird übrigens immer größer. Die grüßen einen wenigstens, falls sie nicht völlig in ihrer Musik versunken sind.
Dann kam Michael mit seinem Volkslauf-Vorschlag. Ich hasse sportliche Wettbewerbe, seitdem ich in der Schule als Klassenkleinster jahrelang beim Basketball als letzter zur Wahl stand. Aber einmal könnte man es ja versuchen. Ich meldete mich beim ASC Marathon Friedberg an. Und fand mich in einem Pulk jüngerer Frauen und Männer wieder, die von der Gesamtschule West über den Äppelwoiweg durch Ockstadt hoppelten. Von da gut hundert Höhenmeter bergauf, über die Autobahn und noch ein Stück in den Wald. Und dann den selben Weg zurück. Michael hatte sich übrigens nicht angemeldet. Also kein Landbote-Reklamelauf.
Ich lernte, dass man es langsam angehen lassen muss. Dann kann man das Feld von hinten aufrollen – das macht ziemlich Spaß. Ich lernte, dass ein Dauerpuls von 158 ziemlich anstrengend ist und am nächsten Tag eine Art Kater zur Folge hat. Ich ärgerte mich, kurz vor dem Ziel noch von einem Raser überholt zu werden. Und ich freute mich, als Schwippschwager Siggi mir Wochen später bewundernd auf die Schulter schlug: „Da hast du ja eine Super-Zeit hingelegt. In deinem Alter! Zehn Kilometer in 53 Minuten würde ich nicht mehr schaffen. Die Knie machen das nicht mit.“
Nun gut. Vorigen Sonntag (am 10. März 2024) war ich wieder beim Winterstein-Volkslauf dabei. Und rannte mir die Zunge aus dem Hals. Ich war eine halbe Minute langsamer als vor einem Jahr, Platz 67 von 152. Der schnellste Läufer war 21 Minuten vor mir am Ziel. Ich altere unaufhaltsam, auch wenn ich gerade fitter bin als in meinen Zwanzigern, Dreißigern, Vierzigern und Fünfzigern. Ich ernähre mich etwas gesünder als früher. Und liebäugele damit, an einem guten Tag spontan eine zweite Laufrunde zwischen Ober-Wöllstadt und Nieder-Rosbach einzulegen. Das wäre dann ein Halbmarathon. Packe ich das?
30 Kilometer
Michael lächelte nachsichtig, als ich ihm beim Landbote-Kaffeekränzchen von dieser dahergeschlichenen Idee berichtete. „Versuch es doch einfach“, sagte er. „Ich hab mich übrigens für den 30-Kilometer-Lauf um den Winterstein eingetragen. Ein paar junge Frauen aus meinem Lauftreff haben mich dazu überredet. Bin mal gespannt, ob ich das schaffe.“
Am Sonntag ist Michael dann die ganze Strecke gelaufen. Er schaffte die 30 Kilometer in dreieinhalb Stunden. Chapeau! Aber das, mein Lieber, krieg ich auch noch hin.
Fleißig! Super!
Gruß von einem Wohlbeleibten
Lieber Klaus,
mach weiter so!
Es gibt noch steigerungsmöglichkeiten.
Eine Stunde täglich schwimmen, Sauna, Whirlpool, und Geräte-Fitness, so wie du das heute ausprobieren wirst.😂👍