Kulturkreis Ortenberg

600 Jahre jüdisches Leben

Von Corinna Willführ

Mit „Masel tov für Ortenberg “ – also mit viel Glück oder auch viel Erfolg – eröffneten das Dresdner Ensemble „Wirbeley“ und Jalda Rebling, Kantorin der Berliner Synagoge, das Programm zu „600 Jahre jüdisches Leben in Ortenberg“. Veranstalter der Reihe sind der Kulturkreis Altes Rathaus Ortenberg (KARO) und die Stadt. Weitere außergewöhnliche Veranstaltungen für eine Kleinstadt in der Provinz setzen bis zum Gedenken an die Pogromnacht am 9. November 1938 die Reihe fort. Der Landbote begleitet die Veranstaltungsreihe. Heute stellen wir die Zeugnisse der einstigen Israelitischen Gemeinde vor, die bis heute im Stadtarchiv und bei einem Rundgang durch Ortenberg zu finden sind.
Das älteste im Archiv der Stadt Ortenberg vorhandene Dokument ist in Ashkenasischer Handschrift verfasst. (Foto: Corinna Willführ)

Das älteste Dokument jüdischen Lebens in Ortenberg ist im Archiv der Stadt aufbewahrt. „Kopfständig als äußerer Einband um das ‚Schatz-Register der Stadt Ortenbergck de Anno 1656.“ Auf dem Dokument in Ashkenasischer Quadratschrift zu lesen: die Zeilen für das Morgengebet (Shaharit) zum jüdischen Feiertag Yom Kippur, aufgeschrieben um 1400. Manfred Meuser und Michael Schroeder haben im Heft 4 der Reihe „Ortenberger kleine historische Schriften“ die „Geschichte der jüdischen Gemeinde von Ortenberg in Hessen“ akribisch dokumentiert. Michael Schroeder ist Kunsthistoriker und Stadtarchivar. Manfred Meuser, Schulleiter im Ruhestand, war viele Jahre Vorsitzender des Kulturkreises altes Rathaus Ortenberg. 1422 sind es zwei jüdische Familien, die ihren Wohnort in der Stadt im heutigen Wetteraukreis hatten: „Samuel und Kalme“ mit Familien. Auf deren Nachweise gründet sich der Anlass für das Programm zu „600 Jahre jüdisches Leben in Ortenberg“. Initiator und Ideengeber für dieses ist Martin Schindel, Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinde und stellvertretender Vorsitzender von KARO.

Im 19. Jahrhundert die volle Gleichberechtigung

Aus späteren Jahrhunderten sind die „Handbücher der israelitischen Gemeinde“ komplett erhalten“, berichtet Michael Schroeder bei einem Archivbesuch. Sie belegen etwa die Besoldung des Gemeindedieners oder die Ausgaben für das „Anzünden der Lichter“ in der Synagoge, das christliche Mitbürger am Sabbat übernahmen.

Ein Zeitensprung: Aus dem Jahr 1838 stammt der Lageplan der Alten Synagoge unweit des damaligen Stadtwirtshauses im „Würmlingsgässchen“, den der Kunsthistoriker aus dem Regalen des Archivs herausgesucht hat. Von der ersten Synagoge in der Stadt sind nur Fundamentreste aus Bruchsteinen vorhanden. Darüber heute: eine vom Verfall bedrohte Fachwerkscheune.

Stadtarchivar Michael Schroeder an den Mauerresten der ersten Synagoge (Foto: Corinna Willführ)

1876 erwarb die Jüdische Gemeinde in der Wilhelm-Leuschner-Straße ein neues Gebäude, das ihr fortan als Sakralbau und als „Schul“ diente. 1880 zählte die Gemeinde gehörten rund acht Prozent der Einwohner dem jüdischen Glauben an. Wurden sie in schriftlichen Zeugnissen noch Ende des 18. Jahrhunderts nur mit ihren Vornamen geführt, erhielten sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts Familiennamen. „Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts erlangen sie nach und nach die volle Gleichberechtigung mit ihren christlichen Nachbarn“, ist in der „Ortenberger kleinen historischen Schrift“, Heft 4 von 2018, zu lesen. „Ab den 1850er Jahren finden wir bis zum Untergang der jüdischen Gemeinde in Ortenberg folgende Namen von Großfamilien: Bauer, Hess (auch Heß), Friedmann, Kaufmann, Löwenstein, Lorsch, Marx, Oppenhemer, Schiff, Stern, Marcus, Preschner, Roseberg, Levy, Röthler, Goldschmidt“. Das älteste Wohngebäude der Altstadt, ein barocker Fachwerkbau, trägt hoch heute den Namen „Herz-Schiff-Haus“. Das Grabmal von Herz Schiff (1835-1919) befindet sich auf dem jüdischen Friedhof, der mitten in der Stadt am Ufer der Nidder ist.

Der Terror der Nazis

In einem Brief an Michael Schroeder schrieb Ernest Kaufmann, dessen Familie 1934 nach Palästina ausgewandert und später in die USA gezogen war, 2013: Mit den Nachbarn sei das Verhältnis gut gewesen, es habe „no problem“ gegeben. Das kleine Schlachthaus der Kaufmanns hatte an die Rückseite der Metzgerei Mann in der „Strack Gass“ gegrenzt. Doch mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 erlebten auch die Mitglieder der israelitischen Gemeinde Ortenberg zunehmend Erniedrigung, Hass und Gewalt. Etwa die Familie Stern, die dem Angriff von sieben vermummten Gestalten auf ihr Haus ausgesetzt war. Die Familie von Willy Oppenheimer, denen die Zäune ihres Anwesens zerstört wurden. Die Familie Hasselhorst, bei denen Fensterscheiben eingeworfen wurden „in der Annahme, es seien Juden im Hause anwesend“, wie es in der Historischen Schrift von Schroeder/Meuser nachzulesen ist. Als am 9. November 1938 in ganz Deutschland die Synagogen brannten, lebten in Ortenberg bereits keine Juden mehr. „Aufgrund des Wegzugs der jüdischen Familien nach 1933 wurde das Synagogengebäude vermutlich nach 1936 verkauft.“

Der „Wegzug“ wurde mit aller Macht von den Nationalsozialisten verfolgt. Schon 1934 war jüdischen Vieh- und Pferdehändlern die Teilnahme am „Kaale Määrt“, dem Kalten Markt als größtem Volksfest Oberhessens Ende Oktober verboten. . Am 18. August 1935 verfügte der Stadtvorstand: „Nachdem das einst stark verjudete Ortenberg in den beiden letzten Jahren nahezu judenrein geworden ist, wird der Zuzug von Nichtariern für die Zukunft nicht gestattet.“ Bis spätestens 1. April 1936, so eine Anordnung des Hessischen Kreisamtes in Büdingen, hatte eine „Judenkartei“ angelegt werden müssen. „Bis Juni 1936 haben dann alle Mitglieder der verbliebenen jüdischen Familien Ortenberg verlassen“, berichtet Michael Schroeder. Am 6. August 1936 wird dies amtlich von der Bürgermeisterei verkündet.

An einer Mauer in der Schlossstraße befindet sich heute eine Gedenktafel für die ehemaligen jüdischen Bürger der Stadt, die Opfer des nationalsozialistischen Rassenhasses wurden. Sie wurde auch mit Hilfe der intensiven Rechercheunterstützung von Schülerinnen und Schülern der Gesamtschule Konradsdorf ermöglicht. Zum Tag der Reichspogromnacht am 9. November 1938 findet dort eine Gedenkveranstaltung statt – auch in 2022. Pfarrer Martin Schindel, der aus Gesundheitsgründen in den vergangenen Wochen seine Recherchen zur Geschichte der vom Nazi-Regime verfolgten Ortenberger Juden unterbrechen musste, arbeitet weiter an einer Publikation.

Die Mikwe

Wer über die steinerne Brücke zum Mühlgraben der einstigen Hainmühle an der „Schelmenpforte“ die Stadt betritt, macht gerne halt: Nicht zuletzt um ein Foto von dem idyllisch gelegenen „Häuschen“ aufzunehmen. In dem Gebäude (heute im Privatbesitz) befand sich einst die Mikwe. Auf das „Judenbad“ weist ein Metallschild an der Hausmauer der ehemaligen Stadtmühle hin. Ein Verweis, der mehr Information benötigte. „Ein Brunnenüberlauf, der durch die Öffnung in der Stadtmauer floss, versorgte das Bad mit frischem Quellwasser. Hier konnten jüdische Frauen und Männer in lebendigem Wasser ihre vorgeschriebenen rituellen Waschungen vornehmen“, ist bei Meuser/Schroeder zu lesen.

Nicht weit davon entfernt, befindet sich der Friedhof der Jüdischen Gemeinde Ortenberg (1728 bis 1933) am Ufer der Nidder.

Die Veranstaltungsreihe

„600 Jahre jüdisches Leben in Ortenberg“ ist der Titel einer Veranstaltungsreihe des Kulturkreises Altes Rathaus Ortenberg (KARO) und der gleichnamigen Stadt im Wetteraukreis. Ihr Anliegen: „Ein Zeichen gegen Antisemitismus zu setzen“ aus einer Kommune, die die letzten jüdischen Besucher bereits 1936 verlassen mussten. Ihre „Spuren“ lassen sich nur noch in schriftlichen oder steinernen Zeugnissen finden.

Eine sehr lebendige Diskussion über heutiges jüdisches Leben kann mit Helene Shani Braun am Montag, 3. Oktober, (Feiertag) erwartet werden. Den Fokus auf Hilda Stern Cohen, eine jüdische Lyrikerin aus dem Vogelsberg, richten die Schauspielerin Lilli Schwethelm und der Gitarrist Georg Crostewitz in einem musikalischen Lesetheater im Oktober. Und ein außergewöhnliches Konzert m Sonntag, 23. Oktober. Weitere Veranstaltungen im November und 2023.

Helene Shani Braun wird sich in Ortenberg den Fragen stellen, warum sie als junge Frau, Feministin und queer, Rabbinerin werden möchte. (Foto: Veranstalter)

Gast am Montag, 3. Oktober, beim Kulturkreis Altes Rathaus Ortenberg ist in der Reihe Helene Shani Braun. Die Berlinerin ist Mitte 20 und studiert an der Universität Potsdam jüdische Theologie. Sie ist auf dem Weg die jüngste Rabbinerin im Land zu werden, das den Holocaust zu verantworten hat. Ihr Anliegen ist es, das Judentum in der Zukunft mitzugestalten und allen sichtbar zu machen. Helene Shani Braun versteht sich als Feministin und als queer. Wie sie den Begriff „Queer“ definiert, also als eine Haltung, die die Zweigeschlechtlichkeit oder die geltende Normalität in heterosexuellen Beziehungen hinterfragt, dürfte sicher ein spannender Diskussionspunkt an dem Abend werden.

Um sie nicht zu vergessen: Lilli Schwethelm und Georg Crostewitz erinnern an Hilda Stern Cohen. (Foto: Veranstalter)

„Genagelt ist meine Zunge an eine Sprache, die mich verflucht“ ist der Titel des Programms, das die Ortenberger Schauspielerin Lilli Schwethelm und der Musiker Georg Crostewitz am Samstag, 8. Oktober, auf die KARO-Bühne bringen werden. Die Zeilen stammen von der jüdischen Lyrikerin Hilda Stern Cohen. „Schmerz, feine Ironie, tiefes Mitgefühlt, leiser Sarkasmus und eine bewegende Freude über die Schönheit der Natur“ kennzeichneten ihr Werk, fasst Lilli Schwethelm zusammen. Hilda Stern Cohen, geboren 1924 im oberhessischen Nieder-Ohmen, hat das Getto Lodz und das Konzentrationslager Auschwitz überlebt. Die Mutter von drei Töchtern starb 1997 im Exil in Amerika.

„Kirche, Synagoge und Moschee“: Geht nicht zusammen oder doch? Ein interreligiösen Konzert am Sonntag, 23. Oktober, 17 Uhr in der Marienkirche in Ortenberg stellt eine musikalische Verbindung her: Mit Irith Gabriely an der Klarinette, mit Thomas Wächter an der Orgel und Abuseyf Kini (Sass, Percussion). Eintritt frei.

Zum Vormerken bereits für den 5. November: Wenige Tage vor dem Gedenken an die Pogromnacht am 9. November 1938 gastiert Sandra Kreisler mit ihren Kollegen Gennadij Desathnik (Geige, Bratsche, Gitarre) und Valeriy Khoryshman (Akkordeon) in Ortenberg. Die Tochter von Georg Kreisler und ihr Team werden unter dem Titel „Schum davar – nicht ganz koschere Lieder“ präsentieren. Schum davar bedeutet eigentlich „keine Sache“, doch das wäre zu wenig.

Durch die Unterstützung des Wetteraukreises aus dem Förderprogramm „Demokratie leben“ ist die Teilnahme am Diskussionsabend mit Helene Shani Braun am Montag, 3. Oktober, kostenlos. Ebenso wird für das musikalische Lesetheater mit Lilli Schwethelm und Georg Crostewitz am Samstag, 8. Oktober, 20 Uhr, kein Eintritt fällig..

Titelbild: Das einstige Ritualbad der Jüdischen Gemeinde Ortenberg: die Mikwa am Ufer der Nidder am Rande der Altstadt. (Foto: Corinna Willführ)

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