Eine Formalie in Kiew
von Jörg-Peter Schmidt
Sehr lange wurde im gut besuchten Gießener KiZ (Kultur im Zentrum) bei der Veranstaltung des Literarischen Zentrums Gießen (LZG) applaudiert, nachdem der Schriftsteller Dmitrij Kapitelman sein neues Buch „Eine Formalie in Kiew“ vorgestellt hatte. Der Autor, der auch Journalist und Musiker (er liebt beispielsweise Hip-Hop) ist, beschreibt aufgrund eigener Erlebnisse, welche bürokratischen Hürden jemandem aufgebürdet werden können, wenn man als gebürtiger Kiewer in Deutschland seit 25 Jahren lebt und einen deutschen Pass beantragen will.Denn die zuständige Beamtin in der Leipziger Ausländerbehörde („Frau Kunze“) erläutert ihm, er brauche zwingend eine Dokument, das er nur in seiner Geburtsstadt erhält: eine ukrainische Beglaubigung seiner Geburt in Kiew.
Hiobsbotschaft höflich sächselnd vorgetragen
Dass ihm die Sachbearbeiterin die Hiobsbotschaft höflich-freundlich in vollendet sächsischer Mundart verdeutlicht, die man durchaus mögen kann, macht die Sache auch nicht besser. Dmitrij Kapitelman, der Jahrgang 1986 ist, hatte für die in der von Tessa Schäfer (LZG) moderierten Lesung einige Kapitel aus dem im Verlag Hanser Berlin erschienenen Buch ausgewählt, die von der Reise nach Kiew berichten. Sie unternimmt der in dem Roman nach dem Ebenbild des Autors erfundene junge Mann namens Dima.
Kapitelman – Sohn eines jüdisch-ukrainischen Mathematikers und seiner aus Moldawien stammenden Ehefrau –, der die Deutsche Journalistenschule in München absolviert hat, gelingt es in seiner flüssig zu lesenden Erzählung, bei der Beschreibung seines bisherigen Lebens und des Wiedersehens mit Kiew an passenden Stellen humorvoll zu schreiben, ohne die Ernsthaftigkeit seiner Themen in dem Buch zu vernachlässigen.
Bekommt Dima gewünschtes Papier?
Das brachte der Schriftsteller, der im Alter von acht Jahren mit seiner Familie als Kontingentflüchtling nach Deutschland übersiedelte, auch bei seiner Lesung in Gießen prima rüber: Er hatte aufgrund seiner natürlichen, sympathischen, schelmischen Art und seinem schauspielerischem Talent (er ganz gut sächseln) das Publikum schnell auf seiner Seite. Selbstverständlich wollte man wissen: Bekommt er (bzw. Dima) denn in Kiew wirklich seine dringend benötigte Urkunde?
Wie ein wärmender Sonnenstrahl
Das klappt. Aber dies ist nur eine von mehreren Geschichten in dem Buch: Dima trifft in der ukrainischen Hauptstadt endlich einen Freund aus seiner Kindheit wieder, den er bis dahin „verloren“ hatte. Und er streift mit seinem Freund durch Kiew, das Dima nach und nach in einer Art Hassliebe irgendwie wieder mag – auch wenn dort wenn vieles nur durch Bestechung gehe, was aber ein durchaus internationales Phänomen ist, wie man weiß…
Dima erfährt, dass sein Vater, der mittlerweile in Kiew behandelt wird, an den Folgen eines Schlaganfalls leidet und zeitweise Lücken im Gedächtnis hat. Nun kümmert er sich um den Papa, der sich um ihn gekümmert hatte. Nach und nach ergibt sich zwischen Dima und seinen Eltern, von denen er sich entfremdet hatte, eine gewisse Annäherung. Zwischen den Zeilen in den Kapiteln scheint jetzt wie ein wärmender Sonnenstrahl durchzudringen, dass der Sohn jetzt doch mehr bereit ist, menschliche Schwächen der zunehmend älter werdenden Eltern zwar nicht ganz zu tolerieren, aber zu verzeihen.
Probleme mit der Bürokratie
Dmitrij Kapitelman, der für seinen ersten Roman „Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters“ (es geht um eine Israel-Reise) den Klaus-Michael-Kühne-Preis erhalten hatte, beantwortete noch viele Fragen der Moderatorin und des Publikums. Er schilderte die Zerrissenheit eines Migranten: Deutsche (und nicht nur die Behörden) erinnern ihn – oft ungewollt – daran, dass er ja aus dem Ausland stamme. Und in Kiew lässt man ihn spüren, dass er doch ein Deutscher bzw. Ausländer sei. Und obwohl er jetzt (wie Dima in dem Buch) seinen deutschen Pass hat, müsse er doch weiterhin die eine oder andere Bürokratie erleben (übrigens auch in der Ukraine).
Auch über Parlamentspoesie gesprochen
Es wurde an diesem Abend noch über ein aktuelles Thema gesprochen, das mit seinem neuen Roman eher weniger zu tun hat. Zusammen mit den Autorinnen Mithu Sanyal und Simone Buchholz hat Kapitelman kürzlich vorgeschlagen, es möge doch die Position einer deutschen Parlamentspoetin oder eines -poeten geben, was beispielsweise in Kanada seit etwa 20 Jahren längst der Fall ist. So sind die drei Initiatoren von Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Die Grünen), der Bundestagsvizepräsidentin, zu einem Gespräch empfangen worden.
Sie steht, dem Vorschlag, die weithin trocken-nüchterne, oft verschlüsselte politische Sprache mit Poesie aufzufrischen, wohlwollend gegenüber, wie man in einem Interview mit ihr von „radioeins“ (rbb) lesen kann. Dies, zumal man der Verrohung der Sprache auch im Bundestag entgegenwirken müsse. Sie schlägt auf Twitter vor: „Mit Poesie einen diskursiven Raum zwischen Parlament & lebendiger Sprache öffnen“
In Kommentaren einiger Zeitungen wie „Post von Wagner“ in der „Bild“-Zeitung wird die Idee eher kritisch gesehen. Kapitelman verteidigte auch in Gießen die vieldiskutierte Idee. Außer der Kritik erhalte er auch Zustimmung.
Man darf gespannt sein, wie es bei dieser Diskussion weiter geht, wobei sich dann nach und nach herausstellen wird, wie man die Idee von Parlamentspoeten umsetzen könnte, die näher erklärt werden wird. Man fühlt sich an die Amtseinführung von US-Präsident Joe Biden erinnert, als Amanda Gorman ihr großartiges Gedicht vortrug.