Jüdisches Leben

Berührende Begegnung in Ortenberg

Von Corinna Willführ

Auf den Spuren ihrer jüdischen Vorfahren trifft Joanne Nuguit auf eine Klassenkameradin ihres Vaters Ernst Kaufmann in Ortenberg. Die Familie Kaufmann war 1934 vor den Nazis in die USA geflohen.

Die Familiengeschichte von Ernst Josef Kaufmann in Ortenberg reicht bis in das Jahr 1790 zurück. Sie endet in der Stadt im Jahr 1934. Ernst Kaufmann ist acht Jahre alt, als seine Eltern Robert Kaufmann und Selma Strauß vor nationalsozialistischen Übergriffen in die USA auswandern. Robert Kaufmann, geboren am 10. Juli 1889, war wie schon sein Vater Götz (Gustav) Kaufmann Metzger. Bekannt und begehrt waren die von ihnen hergestellten Rindswürste, ganz besonders zum Kalten Markt, Oberhessens größtem Heimatfest, jährlich am letzten Oktoberwochenende .

Eine berührende Begegnung für zwei Frauen, die sich nie zuvor gesehen hatten: Joanne Nuguit aus den USA trifft die ehemalige Schulkameradin ihres Vaters Ernst Kaufmann, Gertrud Steiper. (Fotos: privat)

Die Flucht vor den Nazis

Ernst Kaufmann ist 79 Jahre alt, als er im Frühjahr 2013 aus Voorhees, New Jersey (USA), Kontakt mit Ortenbergs Stadtarchivar Michael Schroeder aufnimmt. Für wenige Stunden war nun seine Tochter Joanne Nuguit in der Stadt ihrer Vorfahren – zu einer besonderen Begegnung.

Denn Joanne Nuguit, die mit ihrer Familie in den USA lebt, lernt Getrud Steiper kennen. Die Seniorin wohnt im „Haus Europa“. Ernst Kaufmann war ihr Freund in Kindertagen, saß im Unterricht neben ihr. „Ach, ich hab den Ernst immer so gern gehabt. Er war mein Spielkamerad und ging mit mir in die Schule. Komm, Joanne, lass dich noch mal drücke.“ Michael Schroeder, durch den der Kontakt zustande kam, berichtet berührt von der Begegnung der beiden Frauen. „Ach, das wird alles nicht so schlimm – das sind ein paar Verrückte“, habe Robert Kaufmann die Familie im Angesicht zunehmender Judenfeindlichkeit nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten seine Familie beruhigt. Joannes Großmutter indes habe darauf gedrängt, „so bald als möglich auszuwandern, alles wurde schlimm.“

Das ehemalige Wohnhaus der Familie Kaufmann in der Mittelgasse in der Ortenberger Altstadt.

Heimweh nach Ortenberg

Über den Hamburger Hafen verlassen Robert und Selma mit ihren Kindern Margot (geboren 1. Februar 1921) und Ernst (geboren 7. August 1926) im Herbst 1934 Ortenberg und Deutschland. Ihr Zielhafen New York. Noch jahrelang habe Selma Kaufmann in Briefkontakt mit Gertrud Seipers Mutter gestanden, ihr berichtet, „dass der Ernst so schrecklich Heimweh nach Ortenberg hat“. Den Ort, an dem sein Großvater Götz (Gustav), der als Jugendlicher nach Ortenberg kam, dort im späteren als „Geisterhaus“ bekannten Gebäude (Mittelgasse 5) lebte und „über die Gass“ Regine, Tochter des Viehhändlers Hermann Heß, heiratete. Das kleine Schlachthaus der Kaufmannsgrenzte grenzte rückseitig an die Metzgerei Mann in der „Strack Gass“ an. In den kleinen historischen Ortenberger Schriften (Heft 4) ist dazu zu lesen, dass Ernst und seine Schwester beim Kalten Markt mehrmals am Tag „ganze Wäschekörbe mit den Würsten zum Marktstand ihres Vaters“ hätten tragen müssen. Und: dass Ernsts Vater: „dem Metzger Mann sein Rezept für die Rindswürste als Dank dagelassen habe.“

Margot Kaufmann, Jahrgang 1921, und ihr Bruder Ernst, Jahrgang 1926, mussten als Kinder ihre Heimat Ortenberg verlassen.

Johanne Kaufmann, Tochter von Götz Kaufmann und Regine Heß, heiratete am 24. August 1919 Willy Friedmann aus Frankfurt. „Willy was murdered in Theresienstadt, Johanne in Auschwitz.“

Titelbild: Die Schulklasse von Ernst Kaufmann und Gertrud Steiper.

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